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schon zehn Uhr abends war. Allmählich wurden auch die Renthiere wieder frei gelassen, nachdem das Melken, welches die ganze Gemeinde über eine Stunde beschäftigtet hatte, beendigt war.
Als wir den Berg hinabgestiegen waren, sahen wir die unförmige Gestalt eines Lappen und zu seinen Füßen ein Ren, welches er eben geschlachtet. Um das Thier zu tödten, nimmt der Lappe ein kleines Messerchen, dessen Klinge keine zwei Zoll lang ist, und stößt es ihm in den Hals. Dabei hütet er sich, es aus der Wunde zu ziehen, damit das kostbare Blut nicht verloren gehe; so läßt er das arme Thier, dessen Leben unmerklich schwindet, weiter gehen, bis es taumelt und nmsinkt. Dann zieht er mit großer Geschicklichkeit die Haut ab, so daß sie von keinem Tropfen Blut verunreinigt wird.
Auf dem Rückwege nach Tromsö begegneten wir auch einem Lappen, welcher drei große Renthiere führte. Sie gingen eins nach dem andern stattlich daher, schwer mit Gepäck beladen, welches an ihren Seiten herab hing. Nur schwer lassen sich nach langer Abrichtung diese Geschöpfe als Lastthiere gebrauchen.
Vom Kilo zum Milli.
Am 17. August 1868 erschien die neue Maß- und Gewichtsordnung für den norddeutschen Bund mit der Bestimmung, daß sie vom 1. Januar 1872 an Giltigkeit haben solle; während der zwischen liegenden Lernperiode trat zum Norden der Süden, er that eifrig mit, und vom Nenjahrsmorgen 1872 an durfte und mußte Deutschland nach Meter, Ar und Liter rechnen. Es machte sich ganz gut, die Jungen in der Schule hatten die Dezimalrechnung eifrig getrieben, von den Erwachsenen war eine stattliche Anzahl beinahe ein Jahr lang in Frankreich gewesen mit dem ausdrücklich angestrebten und auch erreichten Ziele, sich in den neuen Verkehrsgrößen zu unterrichten, und endlich traten, die Rechnung erleichternd und erläuternd, die neuen dezimalen Münzgrößen hinzu, und heute weiß jede Milchfrau, wie viel Wasser sie dem Liter Milch znsetzen muß, um bei zehn Pfennigen Marktpreis mit Ehren bestehen zu tonnen.
Somit wäre alles gut, nur das eine nicht, daß niemand noch bis heute wußte, wie er die Abkürzungen der neuen Wörter, welche Maß und Gewicht bedeuten, zu schreiben hat, damit ihn jeder deutsche Mitbürger versteht. Und solche Abkürzungen müssen sein, denn gesetzt, sie wären nicht auf Erden, so gingen täglich eine Masse Zeit und Papier verloren. Man denke nur, wie oft diese Begriffe in Zeitungen, Büchern und Briefen wiederkehren. Nun hätte man meinen sollen, diese einfachste aller Bedürfnißfragen hätte sich schon den Gesetzgebern aufdrüngen müssen, aber sie muß es doch nicht ordentlich gethan haben, denn sonst wäre der Maß- und Gewichtsordnung ein Paragraph aügehängt worden, folgenden Inhalts:
„Die Abkürzungen der Maß- und Gewichtsbezeichnnngen werden für den amtlichen Verkehr so und so festgestellt."
Man hätte ferner meinen sollen, die spätere Eichordnnng vom 16. Juli 1869 hätte ganz unabwendbare Veranlassung geboten, derartige amtliche Feststellungen zu machen, aber auch damals schwieg noch des Gesetzgebers Höflichkeit.
Nun ging s-nno 72 das Rechnen los, und sofort standen Hagelwolken am Himmel, geladen mit Abkürzungsvorschlägen; sie entluden sich in technischen Journalen, in Tageszeitungen, in Ingenieur- Vereinen, technischen Bureanx und Maschinenfabriken, und wohin man die Angen wendete, fand man m, N, mt, Ntr, welche Meter, 1, U, Iw, Iwr, welche Liter, U, U, Hl, HUr, IlUUr, welche Hektoliter bedeuten sollten re. Von einer Zeitschrift insbesondere wissen wir, daß sie jahrelang die von ihr ersonnenen Abkürzungen dem Publikum vorführte, um es an den Anblick zu gewöhnen; von einem technischen Vereine wissen wir, daß er jedem Mitglieds bei schwerster — allerdings blos moralischer — Verantwortlichkeit die Führung der vom Vorstande festgesetzten Abkürzungen auferlegte. Alle diese kleinen Mittel indessen verfingen nicht, und das Bedürfniß wurde immer schreiender. Da legten sich in letzter Zeit einige Einzelregierungen ins Mittel und ordneten die für den amtlichen Verkehr geltenden Abkürzungen an, aber diese Abkürzungen harmoniren Wohl auch nicht recht mit einander, und nun versteht der amtliche Baier den amtlichen Sachsen nicht, und wenn der Hesse om schreibt, muß der gewissenhafte Oldenburger anfragen, ob das Cnbikmeter oder Centimeter heißt. Bei all solchen Dingen kommt der Segen nur aus den höheren Regionen, und er ist nun gekommen, nachdem wir uns sechs Jahr ohne ihn haben behelfen müssen.
Denn im Februar 1877 ist vom Reichskanzleramte eine Kommission zur Feststellung abgekürzter Maß- und Gewichtsbezeichnungen zusammenberufen worden, und ihre Vorschläge haben den Beifall der obersten Bundesbehörde gefunden. Die Kommission war zusammengesetzt aus 16 Mitgliedern, und es waren in ihr die deutschen Regierungen, die Eichungsbehörden, die Lehranstalten, technischen Vereine, die Kaufmannschaft und der Buchhandel vertreten. Das vorgeschlagene Bezeichnungssystem ist folgendes:
(Kilometer . . .
Um
eCubikmeter .
oUm
Längen-
Meter ....
NI
Körper
maße
Hektoliter . .
Ul
maße
Centimeter. . .
ein.
Liter . . .
1
Millimeter. . .
nun
Cubikcentimer
66M.
Quadratkilometer
girm
Cubikmillimeter
01NM.
Flächen
maße
Hektar ....
Ar.
Quadratmeter
llA,
N
HN1
Gewichte
Tonne . . Kilogramm . Gramm . . Milligramm.
t
Quadratcentimeter . Quadratmillimeter
ciein
A
INA
Die Kommission ging dabei von den Erwägungen aus, daß Abkürzungen nur für diejenigen Bezeichnungen eingeführt werden, welche sich im Verkehrsleben wirklich eingebürgert haben, daß also Bezeichnungen wie Stab, Kette, Kanne re. unberücksichtigt bleiben, daß ferner möglichst wenig Buchstaben und nur Buchstaben, aber keine anderen Zeichen Anwendung finden, daß zur thunlichsten Vereinfachung auch die sonst üblichen Punkte hinter den Abkürzungen weggelassen werden, und daß endlich, worauf das Hauptgewicht gelegt wurde, ein für die Schule brauchbares, leicht zu erlernendes und zn keinen Jrrthümern Veranlassung gebendes System Anwendung fände. Diesen Erwägungen ist der Bundesrath überall beigetreten, und es sind die obigen Abkürzungen nunmehr für den amtlichen Verkehr und für den Unterricht in den öffentlichen Lehranstalten angenommen werden.
So sehr wir uns nun freuen, daß endlich ein ernster Schritt gethan worden ist, um aus der babylonischen Abkürzungsverwirrnng her- anszukommen, so sehr wir mit allen Erwägungen der Kommission einverstanden sind, so wenig können wir anerkennen, daß der vornehmste Gesichtspunkt, den die Kommission aufgestellt hat, gewahrt worden ist; wir können nicht zugeben, daß die Bezeichnungen für die Schule vollkommen brauchbar sind, denn es fehlt das System und die Konsequenz. Nach obiger Reihe heißt o in dem einen Falle Centi, in dem andern Falle Cnbik und dann ist wieder für Cubik die Abkürzung ob eingeführt. Das muß zu Verwirrungen bei den Schülern führen, es wird auch manchem Großen den Kopf verwirren und wäre doch sehr leicht zu vermeiden gewesen, wenn man nämlich für die Bezeichnung Centi den Buchstaben 2 eingeführt hätte, wie dies auch am korrektesten gewesen wäre, denn die Maß- und Gewichtsordnung kennt nur Zentimeter, keine Centimeter. Mit dieser einzigen Abänderung käme System in die Reihenfolge, jeder Jrrthum wäre ausgeschlossen, und den Kindern in der Schule wäre leicht einzuprägen, daß für die Grundeinheiten Meter Ar Liter Gramm die Buchstaben m u 1 A
für die Vielfachen Hekto Kilo
die Vorsatzbuchstaben U U
für die Theilgrößen Zenti Milli
die Bvrsatzbuchstaben 2 in
für die Begriffe Quadrat Cnbik
die Vorsatzbuchstaben g v zu gelten haben, und daß außerdem für die Matrosengröße: Tonne der Buchstabe t eintritt.
Wir sind aber im übrigen der Kommission und dem Bundesrathe herzlich dankbar dafür, daß nicht zu viel Benennungen eingeführt worden sind, der gesunde Sinn des Volks hat auch hierin sich schon bethätigt, die Bezeichnung Deka- und Dezi- werden nur von Düftel- meiern und die Bezeichnungen Stab, Kette, Kanne, Faß nur von Antiquitätenkrämern in Mund und Feder geführt. Wer also mit diesen abgethanen Größen noch liebäugeln will, der mag ihnen auch ihre vollenTitel und Würden geben. W.
Ein armer Poet.
Im Fensterbret, von Frost erstarrt,
Ein armes Böglein sitzt und harrt Nur auf ein Bröcklein Brotes;
Ach, traurig-trübe Winterzeit!
Wie kahl der Wald! Die Flur verschneit!
Und keine Nahrung weit und breit Im kalten Reich des Todes!
Ja, ja, mein fröhlicher Poet!
Die schöne Sommerzeit vergeht,
Vergaßest du den Winter?
Die Biene trug im Sonnenschein Den süßen Blütenhonig ein, —
Ihr sänget sorgenlos im Hain,
Der Lüfte leichte Kinder!
Doch nein! Du sangst in jede Brust Einst wundersüße Liebeslust!
Es haben deine Lieder
Mit Wonne jedes Herz erfüllt
Und manches schwere Leid gestillt,
Erklangen sie, von Duft umhüllt,
Vom Blütenzweig hernieder.
Drum Dank dir, fröhlicher Poet!
Wir weih'n dir nicht, wenn es zn spät,
Ein Denkmal — nach dem Tode!
Klopf' nur an alle Fenster an,
Ein jedes wird dir aufgethan,
Und freundlich dankt dir jeder dann
Mit einem Stücklein Brote! August Sturm.
Inhalt: Vor dem Sturm. (Fortsetzung.) Roman von Theodor Fontane. — Persönliche Erinnerungen aus den Jahren 1848 — 5V. II. Abtheilung. III. — Von New-Iork nach San Francisco. Von H. Seniler in San Francisco. — Die modernen dialektischen Dichtungen und die Sprachcinheit. Von Robert Kübel. — Der letzte Sonnenstrahl. Gedicht von Karl Gerok. Zu dem Bilde von B. Woltze. — Am Familientische. Bei den Renthierlappen. Zu dem Bilde von Th. v. Eckenbrecher. — Vom Kilo zum Milli. — Ein armer Poet. Gedicht von August Sturm.
Herausgeber: vr. Woöert Kocnig und Theodor Kcrmann H>antenius in Leipzig. Für die Redaktion verantwortlich Kilo Ktastng in Leipzig. Verlag der Iaheiin-Krpedition (Wrlhagen L Klastng) in Leipzig. Druck von W. H. Teuvncr in Leipzig.