„Ja, aber in einer Kirche gefangen. [...]
(322, Hervorhebung original)
Die unmittelbare Vorlage für diese Szene findet sich im 5. Kapitel des V. Buches von Immermanns Münchhausen. Auch dort sind nach der Trauung, von der die Oberhof-Partien des Romans ausführlich handeln, Lisbeth und Oswald alleine in der Kirche zurückgeblieben, und es ereilt sie das gleiche Mißgeschick wie Marie und Tubal in Fontanes Roman:
Dann gingen sie, ohne einander anzuschauen, stumm der Türe zu, auf deren Drücker er seine Hand legte, sie zu öffnen. „Sie ist verschlossen!" rief er mit einem Laut des Entzückens, als sei ihm das höchste Glück widerfahren. „Wir sind in der Kirche eingeschlossen!" „Eingeschlossen?" fragte sie voll süßem Schreck. — „Warum macht Sie das bestürzt? Wo kann man besser aufgehoben sein als in einer Kirche?" sagte er seelenvoll. Er schlug sanft seine Ahme um ihren Leib, mit der andern Hand faßte er ihre Hand, so führte er sie nach einer Bank, nötigte sie darauf nieder und setzte sich neben sie.
(463)
Was nun in den beiden Kirchen geschieht, nachdem die Autoren ihre Figuren dort eingeschlossen haben, verdeutlicht, wie subtil Fontane die Stelle umgestaltet und in seine Romanhandlung eingearbeitet hat.
Beide Paare versuchen zunächst, die Zeit ihrer „Gefangenschaft" sinnvoll auszufüllen, indem sie die Sehenswürdigkeiten der Kirche anschauen. Bei Immermann heißt es:
„Ich ertrag's nicht so still zu sitzen! Lassen Sie uns die Kirche besehen!" rief er. — „Hier ist wohl nicht viel Sehenswürdiges", versetzte sie zitternd.
(463)
In Vor dem Sturm liest man:
Marie hörte, wie seine Stimme zitterte.
„Gut", sagte sie, „so sind wir denn Gefangene. Machen wir das Beste davon und nutzen wir die Zeit. Es verlohnt sich immer zu lernen, und ich wette. Sie kennen unsere Kirche noch nicht. Niemand kennt sie [...]. (323)
Zunächst fallen die Unterschiede in der Darstellung der Personen und ihrer Handlungen ins Auge. Ganz im Sinne der biedermeierlichen Poetik, denen die Oberhof-Teile des Münchhausen in vieler Hinsicht verpflichtet sind, und entsprechend der traditionellen Verteilung der Geschlechterrollen, wird Lisbeth als scheu, ängstlich und aufgeregt gezeigt — „zitternd", wie es heißt (463) —, während Oswald die Situation vollkommen beherrscht. Dagegen erscheint in Fontanes Text Marie zunächst als diejenige, die trotz ihrer „Befangenheit" (323) zum Handeln drängt, während von Tubal gesagt wird, daß „seine Stimme zitterte" (323) und er fühle „sich wie von einem elektrischen Schlage getroffen" (322). Diesen Unterschieden in der Charakterisierung der beiden Paare entspricht das unterschiedliche Verhältnis, in dem Lisbeth und Oswald einerseits, Marie und Tubal andererseits zueinander stehen. Das Paar in Immermanns Roman ist füreinander bestimmt, und die Verlobung wird noch im gleichen Kapitel vollzogen; die Beziehung zwischen Marie und Tubal ist dagegen voller
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