Tellerchen herumgegangen ist, um die Münzen einzusammeln. Ich bekenne, daß ich keinen Anstoß daran nehme. Es steigert nur meine Theilnahme."
„Auch die meinige," sagte Turgany. „Aber, lieber Othe- graven, wir sind sehr verschiedene Leute. Ich bin ein Lebemann, nicht viel besser als ein Heide. Sie sind ein Geistlicher, vorläufig noch in der Konrektorverpuppung, aber der Schmetterling kann jeden Augenblick ausfliegen."
Othegraven schwieg einen Augenblick. Dann nahm er das Wort: „Lassen Sie mich offen sein, lieber Freund: es drängt mich dazu, und ich finde, es spricht sich gut unter diesen Sternen. Sie nennen sich einen Heiden; ich habe meine Zweifel daran. Aber wie immer auch, Sie irren, wenn Sie das Christenthum, zumal nach dieser Seite hin, als eng und befangen ansehen. Im Gegentheil, es ist frei. Und daß es diese Freiheit üben kann, ist im Zusammenhang mit dem tiefsten Punkte unseres Glaubens."
Der Justizrath schien antworten zu wollen. Othegraven aber fuhr fort: „Wir sind alle in Sünde geboren, und was uns hält, ist nicht die eigene Kraft, sondern eine Kraft außer uns, rund heraus die Barmherzigkeit Gottes. Sie kennen unsere schöne Schildhornsage? Nun, wie mit den: Wendenfürsten Jaczko, so ist es mit uns allen: wir sinken unter in der schweren Rüstung unseres eiteln Jchs, unseres selbstischen Trotzes, wenn uns der Finger Gottes nicht nach oben zieht."
Turgany nickte. „Sie werden mich nicht in Verdacht haben, Othegraven, für die Selbstgerechtigkeit der Menschen und für das Unkraut von Vorurtheilen, das aus ihr sprießt, eine Lanze brechen zu wollen. Ich weiß seit lange, wie wenig es mit dem Stolz unserer Tugend auf sich hat, und wenn ich irgend eines Bibelwortes gedenke, so ist es das: „der hebe den ersten Stein auf sie". Es würde gerade mir schlecht anstehen, die Lebensläufe meiner Mitmenschen durch ein Examen rigorosum gehen zu lassen. Und nun gar die Vergangenheit dieses liebenswürdigen Kindes! Alles was ich mit meiner Frage sagen wollte, ist etwa das: „es ist ein Glück, aus einem guten Hause zu sein". Und an der einfachen Wahrheit dieses Satzes ist nicht wohl zu rütteln. Kniehases Haus ist ein gutes Haus. Das Haus des „starken Mannes" aber, der oben auf dem Hohen- Vietzer Kirchhof unter dem Holzkreuz liegt, ist schwerlich ein solches Haus gewesen."
„Es fragt sich," bemerkte Othegraven. „Ich möchte fast das Gegentheil glauben. Es war ein Haus schwerer Prüfungen, wachsender Demüthigung; aber wo so viel Liebe, so viel schöner Eifer waltete, von einem jungen Leben den drohenden Makel der Geburt, jeden Verdacht des Ungesetzlichen fern zu halten, das kann kein Haus der Unsitte gewesen sein. Ich habe die Geschichte von dem „starken Mann" nicht ohne Rührung gehört. Unglück, nicht Unsegen; Heimsuchung, nicht Fluch."
„Sie überraschen mich," nahm der Justizrath wieder das Wort.' „Ich bin Ihnen dogmatisch nicht gewachsen; aber würden Sie, auch ohne Neigung zu Marie, zwischen Unglück und Un- fegen immer so scharf unterscheiden wie in diesem Augenblick? Würden Sie nicht geneigt sein, die Heimsuchung als eine Folge der Verschuldung, als Strafe, als Verwerfung anzusehen? Irr' ich darin, wenn ich annehme, daß gerade Männer Ihrer Richtung Gewicht legen auf Patriarchalität?"
„Nein, darin irren Sie nicht," erwiderte Othegraven. „Gewiß ist ein Unterschied zwischen dem Hause des Lot und dem Hause von Sodom, und diesen Unterschied, ohne ein klarsprechendes Zeichen, mißachten zu wollen, wäre Auflehnung gegen Sitte und Gebot. Aber was entscheidet, ist doch immer die Gnade Gottes. Und diese Gnade Gottes, sie geht ihre eigenen Wege. Es bindet sie keine Regel, sie ist sich selber Gesetz. Sie baut wie die Schwalben an allerlei Häusern, an guten und schlechten, und wenn sie an den schlechten Häusern baut, so sind es keine schlechten Häuser mehr. Ein neues Leben hat Einzug gehalten. Die Patriarchalität ist viel, aber die Erwähltheit ist alles."
„Und diese finden Sie in Marie?"
„Ich brauche diese Frage gerade Ihnen, theuerster Freund, nicht erst zu beantworten, denn wir empfinden gleich, jeder von
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uns auf seine Weise. Und wenn die Vergangenheit dieses Kindes dunkler und verworrener wäre als sie ist, ich würde diese Verworrenheit nicht achten. Es gibt eben Naturen, über die das Unlautere keine Gewalt hat; das macht die reine Flamme, die innen brennt. Ich habe Marie nie gesehen, ohne mit einer Art von freudiger Gewißheit die Empfindung zu haben: sie wird beglücken und wird glücklich sein."
Turgany drückte dem Freunde die Hand. „Othegraven, ich habe immer große Stücke von Ihnen gehalten, von heute ab lasse ich Sie nicht wieder los.".
So ging die Unterhaltung; das Schlittengeläute klang über die Schneefelder hin; in den Dörfern war alles still; kein Licht als die glitzernden Sterne.
Der dritte Feiertag fiel auf einen Sonntag. Es war ein klarer Morgen. Die Scheiben, nach der Parkseite hinaus, standen im goldenen Schein der eben über den Kirchhügel steigenden Sonne, überall aber, selbst wo sonst Schatten lag, leuchtete der am Abend vorher frisch gefallene Schnee.
Es mochte neun Uhr sein. In dem großen Wohnzimmer, in das wir unsere Leser schon in einem früheren Kapitel führten, saßen Lewin und Renate, aber nicht um den Kamin herum, wie am Abend des ersten Weihnachtstages, sondern in der Nähe des eine tiefe Nische bildenden Eckfensters. Sie hatten hier nicht nur das beste Licht, sondern vermochten auch, mit Hilfe der mehrgenannten breiten Auffahrt aus die Dorfstraße zu blicken, deren Treiben in der Einsamkeit des ländlichen Lebens immer eine Zerstreuung und oft den einzigen Stoff der Unterhaltung bietet.
Das Frühstück schien beendet; die Tassen waren zurückgeschoben und Lewin legte eben ein elegant gebundenes Buch aus der Hand. „Ich fürchte, Renate, wir haben ihm doch Unrecht gethan. Aber diese unglückliche Begeisterung des Dolgeliner Pastors! Da reißt einem die Geduld. Und doch ist viel Sinniges darin. Nun hinke ich mit meiner Ehrenerklärung nach; nrrisncks bonorabls rstarckss oder „mouts-rcks aprös äinsr" wie Tante Amslie mit Vorliebe sagen würde."
Renate nickte.
„Apropos die Tante," fuhr Lewin fort, „ich habe den kleinen Schlitten bestellt, zwei Uhr; in einer Stunde sind wir drüben, ich fahre selbst. Und Marie war noch immer nicht in Guse?" fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
„Nein," erwiderte Renate.
„Du schriebst aber doch, sie habe einen guten Eindruck auf die Tante gemacht. Wenn die „Gräfin Pudagla" nicht Anstand nahm, unserem Liebling in diesem Zimmer zu begegnen, so sollte ich meinen, das Eis müßte gebrochen sein."
„Die Begegnung war unabsichtlich; Marie, die mir ein Buch unseres Seidentopf brachte, trat unerwartet ein. Im übrigen solltest Du nicht immer wieder vergessen, daß die Tante alt ist und einer anderen Zeit als der unserigen angehört. Warum willst Du Standesvorurtheile nicht gelten lassen?"
„Die lasse ich gelten, vielleicht mehr als Recht ist. Aber was ich nicht gelten lasse, das sind die Halbheiten. Tante Amvlie — die Vitzewitze mögen mir dies Zugeständniß verzeihen — ist durch ihr Hineinheirathen in die Pudaglafamilie in gewissen Sinne über uns selbst hinausgewachsen, sie ist eine vornehme Dame, und wenn es ihre gräfliche Gewohnheit wäre, fächernd und ein Bologneserhündchen im Arm, über das Zweimenschensystem geheimnißvolle Unterhaltungen zu führen, so würde ich ihr respektvollst die Hand küssen und am allerwenigsten eine Widerlegung versuchen. Ich wiederhole Dir, ich kann all das würdigen, wenn meine eigenen Empfindungen auch andere Wege gehen. Aber Tante Amelie gehört nicht zu diesen Gräfinnen aus der alten Schule. Sie hält sich für aufgeklärt, für freisinnig. Da vergeht kein Tag, keine Stunde, wo nicht aus Montesquieu, aus Rousseau citirt, wo nicht freiheitlicherhaben von der „vains tülliss" gesprochen wird „gllö ls Vlll- Anii'6 LMkUs Z-Ioirs st Zu-g-ncksur, Illnis äollt Is 8UK6 oollllnlt 1s iwnntch und wenn nun nach all dieser Philosophenherrlichkeit die Probe auf das Exempel gemacht werden soll, so er-