„Nichts für ungut, jünger Herr. Aber mit einundachtzig, da hat man keine Augen mehr, und da hab ich Sie denn eingeschlossen und gefangengesetzt. Und zwei schmucke Gefangene, das muß ich sagen. Ja, ja, Marie."
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Und während im Roman Immermanns der Geistliche die frisch Verlobten zusammen aus der Kirche führt, verläßt Marie allein mit Kubalke das Gotteshaus. Über Tubal verliert der Erzähler in diesem Kapitel kein Wort mehr.
Die Gegenüberstellung der beiden Szenen hat gezeigt, daß Fontane gezielt die verschiedenen Motive und Symbole des Kapitels, die er aus Immermanns Roman entlehnt, in seinen Text eingliedert und umbewertet. Es ist kein bloßes Plagiat, mit dem man es hier zu tun hat, sondern eine bewußt verändernde und umdeutende Adaption der Vorlage. Man wird Fontane unterstellen dürfen, daß es ihm dabei auch darum ging, seine differenzierende Art der Figurei> charakterisierung und seine Auffassung vom Wesen des Romans derjenigen der Verklärungspoetik entgegenzusetzen, die die Oberhof-Teile des Münchhausen weitgehend prägt. Daß sich die Relativierung dieser biedermeierlichen Erzählweise im Roman Immermanns selbst aus ihrer Kontrastierung mit den Münchhausen-Episoden ergibt, wird Fontane nicht entgangen sein. In seinem Erstlingsroman zeigt er jedoch in einer Romanhandlung, die auf die „Arabesken" der Handlung im Werk Immermanns verzichtet, die Brüche und Spannungen in den Beziehungen der Romanfiguren untereinander, ja innerhalb der Figuren selbst, wie man etwa an dem eigentümlich zwischen Selbstsicherheit und Befangenheit schwankenden Verhalten Maries erkennt. Die weit komplexere Psychologie der Fontaneschen Charaktere, die beispielhaft in dem Kapitel .Eingeschlossen' vorgeführt wird, bezeichnet den Unterschied zum Roman des Biedermeier und des frühen Realismus, und sie weist voraus auf die Erzählhaltung und Darstellungsweise in Fontanes späteren Werken. An einer Szene wie der hier behandelten offenbaren sich diese Unterschiede jedoch in einer selten zu beobachtenden Deutlichkeit und Konzentration.
Anmerkungen
1 Vgl. Alexander Faure: „Eine Predigt Schleiermachers in Fontanes Roman ,Vor dem Sturm'". In: Zeitschrift für systematische Theologie 17 (1940), 221 ff.
2 Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Wolfgang Preisendanz (Hrsg.): Theodor Fontane. Darmstadt 1973 (Wege der Forschung Bd. 381), S. 110.
3 Beide Briefe sind bisher unpubliziert. Ich danke der Leitung des Fontane-Archivs für die Erlaubnis, sie einsehen zu dürfen.
4 Theodor Fontane: Briefe. Hrsg. Otto Drude und Helmuth Nürnberger. München 1976. (Han- ser-Briefausgabe Bd. I), S. 610 f.
5 Leider wurde bei einer Neubindung des Buches der Buchblock beschnitten, so dafj einige der wertvollen Randbemerkungen Fontanes bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sind.
8 Da es um den Nachweis und die Deutung der Parallelen zwischen den betreffenden Textstellen geht, wird hier etwas ausführlicher als üblich zitiert, und zwar nach folgenden Ausgaben, unter bloßer Angabe der Seitenzahl in runden Klammern:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Hrsg. Peter Goldammer u. a. Berlin/Weimar * 1 2 3 4 5 1973, Bd. II: Vor dem Sturm III/IV.
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