Berlage zu Nr. 20 des Daheim.
- 320 a.
Unsere Wahlkarte.
Erläuternde Bemerkungen von E. Hasse.
Die soeben beendeten Reichstagswahlen erhielten ihr Gepräge durch die größere allgemeinere Wahlbetheilrgnng, durch die zahlreicheren Stichwahlen (1874: 47, 1877: 70), durch das Anwachsen der sozialdemokratischen und das Znrückgehen der fortschrittlichen Partei, sowie durch eigenthümliche Parteiverbindnngen bei den Stichwahlen. Da diese Ergebnisse einesthcils selbst die Hoffnungen sozialdemokratischer Parteiführer übertrafen, anderntheils in zu grellem Mißverhältnis) zn der zuversichtlichen Haltung der fortschrittlichen Presse standen und es sich zeigte, daß der größere Theil des deutschen Volkes mit der letzteren nicht übereinstinnnte in der Vernrtheilnng der Haltung, welche die Mehrheit des vorhergehenden Reichstages den Justizgesetzen gegenüber eingenommen hatte, konnte es nicht ausbleiben, daß die Wogen der politischen Erregung im deutschen Reiche so hoch gingen, wie wohl seit dessen Wiederaufrichtnng noch nie.
In dieser erklärlichen Erregung hat man vielfach übersehen, daß der durch diese Wahlen zusammengesetzte Reichstag in seiner Partei- grnppirung wenig von dem vorhergehenden abweichen wird. Allerdings haben die Sozialdemokraten, welche 1871 nur 2 und 1874 9 Vertreter in den Reichstag schickten, diesmal im ersten Anstürmen 10 Sitze erobert, und in 20 Stichwahlen diesen 3 hinzugefügt, so daß sie im Reichstage über 13 Sitze verfügen, wenn sie auch ebenso wenig von diesen Gebrauch machen dürften, wie von den 9 Sitzen in der vorigen Legislaturperiode. Aber die übrigen verneinenden Elemente des Reichstages haben keinen Zuwachs erhalten.
Der Verlust der Fortschrittspartei, welcher seine größere Bedeutung in dem Gebietsverlust in der Reichshanptstadt hat, als in dem Hcrabgang von 50 auf 45 Abgeordnete, wobei die Fraktion Löwe vorläufig noch dieser Partei belassen wurde, ist ebenso wie der Verlust der nationalliberalen Partei im wesentlichen der konservativen Partei zu Gute gekommen, welche sich dadurch von ihren Verlusten (1871 : 57; 1874 : 22) in etwas erholt hat (1877 : 45); die positiven Elemente sind also durch diese Verschiebung gekräftigt worden. Die maßgebende nationalliberale Partei des Reichstages, welche selbst in ihrem Bestände wenig verändert aus den Wahlen hervorging (1874: 155; 1877: 135), hat dadurch an Unterstützung das wiedergewonnen, was ihr nicht erst durch die Wahlen, sondern bereits am Schlüsse der vorigen Gesetzgebungsperiode an der Fortschrittspartei verloren ging. Denn seit den jetzt beendeten Stichwahlen kann kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß die Beziehungen zwischen fortschrittlicher und nationalliberaler Partei dauernd gelöst, die zwischen konservativer und nationalliberaler Partei fester geknüpft worden sind.
Die drei großen Parteien des Reichstages, als welche in Zukunft nur noch die konservative, einschließlich der Reichspartei, die nationalliberale und das Centrnm gelten können, haben aber nicht blos ihre Stärke beibehalten, sie haben auch, trotz der Heftigkeit des Wahlkampfes, welcher diesmal die Wahlberechtigten in noch nie gekannter Zahl an die Wahlurnen geführt hat, im wesentlichen ihr bisheriges Gebiet beibehalten. Das nähere hierüber weist die Tabelle aus, in welcher die in der Diagonale stehenden durch den Druck hervorgehobenen Zahlen diejenigen Wahlkreise bezeichnen, welche 1877 Kandidaten derselben Parteistellnng gewählt haben, wie bei der Wahl von 1874.
Bezeichnend ist es, daß die Sozialdemokraten an die National- liberalen 3 Sitze und zwar für die Jndustriebezirke Elberfeld-Barmen, Freiberg in Sachsen und Mittweida in Sachsen und an die Konservativen einen Sitz verloren, dagegen dem Fortschritt 5 Mandate, worunter 3 in den Residenzen Berlin und Dresden, und den Nationalliberalen 3 Mandate entrissen haben.
Von 1871 zu 1874 waren 255 Wahlkreise ihrer politischen Partei treu geblieben, 127 aber, d. i. 33 °/„, hatten die Parteistellung geändert; 1877 hatten von 897 Wahlkreisen 89, also 22 °/o einen Abgeordneten anderer Parteirichtung als 1874 gewählt. Demnach ist die Beharrlichkeit in dem letztverflossenen Zeitraum größer gewesen, als im vorhergehenden.
Die vorliegende Karte (von R. Andres herrührend) hat deshalb nicht blos eine Bedeutung für diejenigen Wahlen, deren Ergebnisse sie zur Darstellung bringt, sie ist in gewissem Grade auch bedeutungsvoll für die geographische Verbreitung der politischen Anschauungen in Deutschland überhaupt.
Die Ergebnisse der Reichstagswahlen sind zwar ebenso wenig ein ausschließlicher und untrüglicher Maßstab für die politische Gesinnung einer Bevölkerung, wie die Wahlbecheiligung für die Politische Bildung. Denn einesiheils enthält sich eine große Zahl von Wählern nur in der Gewißheit des Sieges oder in der Aussichtslosigkeit des Sieges oder aus persönlicher Abneigung gegen den Kandidaten oder auch aus Unlust über die häufige Wiederholung öffentlicher Wahlhandlungen der Abstimmung. Anderntheils ist das Walflergebuiß keineswegs immer Oer wirkliche Ausdruck der politischen Gesinnung der Wäh er, da viele Wähler bei der Aussichtslosigkeit der Durchdringung eines Vertreters der eigenen politischen Anschauung denjenigen Kandidaten ihre Stimme zn geben Pflegen, welcher ihrer politischen Anschauung am wenigsten fern steht.
Viel bezeichnender sind die Stimmenzahlen in denjenigen Wahlkreisen, in denen bei reger Wahlbetheiligung alle gegenwärtig vorhandenen politischen Parteien Kandidaten ausgestellt haben.
Da dies aber fast niemals der Fall zu sein pflegt, gibt unter den Vorhandenen Hilfsmitteln der Beurtheilung das Wahlresultat immerhin das deutlichste Bild von der politischen Gesinnung eines Wahlkreises.
Wenn wir mit diesem Vorbehalt unsere Karte betrachten, so fällt ohne weiteres der geographische Zusammenhang der Wahlergebnisse auf.
Die im Reichstag am stärksten vertretene Partei finden wir vorwiegend, und es ist dies wohl kaum ein Zufall, im Herzen Deutschlands und hier wieder besonders in den neupreußischen Provinzen, sowie am ganzen oberen Rhein, bis dahin, wo er in die von Alters her diesen Namen führende „Pfaffengasse des Reiches" gezwängt wird. Dabei sind die isolirten Wahlkreise der nationalliberalcn Partei am weitesten durch das ganze deutsche Reich verbreitet, selbst in vorwiegend katholischen Gegenden Untersrankens und Badens.
Die konservativen und freikonservativen Wahlkreise sind namentlich in den altpreußischen Provinzen im Osten des Reiches vertreten, zugleich in denjenigen Gegenden, welche vorwiegend der Landwirthschaft angehören.
Diejenige Partei, welche sich das Centrnm nennt, ist ebenso den Grenzgebieten des Reiches zugehörig, wie dies selbstverständlich bei den Protcstparteien aller Art (Polen, Dänen, Elsaß-Lothringer) der Fall ist.
Die Sozialdemokraten sind dort nirgends vertreten, wo andere Parteien es ihnen ersparen, dem Widerspruch gegen das Reich Ausdruck zu geben; ibr Vorkommen ist an keine natürliche geographische oder historische Vorbedingung geknüpft, sondern lediglich durch die Standorte der Großindustrie bedingt.
Die geographische Lage der Protestparteien ist eine geschichtlich bedingte. Wo hannoverische Partiknlaristen, wo Polen, Dänen, wo elsaß-lothringische Protestler zn finden sein werden, ergibt sich von selbst.
Vergleicht man jedoch unsere Wahlkarte mit einer Völkerkarte des deutschen Reichs, so findet sich, daß sowohl bei den Polen als den Elsaß-Lothringern die Wahlkreise zwar in einer gemischten Bevölkerung liegen, daß aber die politischen Kreise mit den ethnographischen Bezirken sich keineswegs decken.
Es kommt dies daher, daß die Stammeszugehörigkeit nicht der ausschließliche Beweggrund für das politische Glaubensbekenntniß ist. Vielmehr tritt noch das Neligionsbekenntniß als mit bestimmend hinzu. Je nachdem nun, zumal bei den Polen, die nichtdeutsche Abstammung mehr in den Vordergrund tritt, oder das römisch-katholische Glaubensbekenntniß, danach sind die Wahlen klerikal (Oberschlesien und Erm- land) oder protest-polnisch (Posen) ausgefallen, während wo, wie bei den Masuren, die nichtdeutsche Abstammung mit protestantischem Glaubensbekenntniß zusammenfällt, die Wahlen liberale Ergebnisse halten.
Diese Beobachtung veranlaßte uns bereits, auch eine Konfessionskarte des deutschen Reichs (z. B. die von Richard Andree in der soeben erschienenen Lieferung des physikalisch-statistischen Atlas des deutschen Reichs von Andree und Peschel) in Vergleich zu ziehen.
Da fällt nun die außerordentlich scharfe Uebereinstimmung der ultramontanen Wahlkreise mit den Gebieten der Hauptdichtigkeit der römisch-katholischen Bevölkerung auf. Diese Uebereinstimmung beschränkt sich nicht blos auf die geschlossenen Gebiete mit vorwiegend katholischer Bevölkerung in Ober- und Niederbaiern, in Lothringen, Rheinland und Westfalen, sowie in Oberschlesien, sondern sie erstreckt sich auch auf Enclaven in rein protestantischen Umgebungen, wie z. B. das katholische Eichsfeld (Heiligenstadt, Worbis), das Ermland und das südliche Oldenburg.
Umgedreht schwindet das Staunen, in der Umgebung ultramontaner Wahlkreise liberale Kreise zu finden, wenn es sich ergibt, daß diese Kreise nicht ausschließlich katholische Bevölkerung haben, Eine Ausnahme von dieser Regel schien es bilden zu sollen, als-in dem protestantischen Danzig ein Ultramontaner es zur Stichwahl brachte, aber dann doch dem Liberalen unterlag.
Man kann die Vergleichung der Wahlergebnisse mit der Sprachen- und Bekenntnißkarte noch weiter sortsetzen und wird hierbei zn um so interessanteren Resultaten gelangen, je mehr man auch die unterlegenen Minoritäten von einigem Belang in Betracht zieht und die jüngsten Wahlen mit den früheren Reichstagswahlen vergleicht. Im allgemeinen läßt sich da ein räumliches Zurückgehen der Stimmenabgabe für die Protestparteien, einschließlich des Centrnms Nachweisen. Diese Parteien sind eben so streng an geographische Voraussetzungen gebunden, daß sie in neuen Gebieten keinen Boden finden, und das Zurückgehen im eigenen Standort erklärt sich leicht, hier durch die Fortschritte der deutschen Sprache in den Grenzländern, dort durch die verminderte Heftigkeit des Kulturkampfes. Eine Ausnahme macht selbstverständlich die an keine andern Voraussetzungen, als an den überall möglichen und in Jndustriegegenden bereits am schärfsten ausgeprägten Klassenhaß gebundene sozialdemokratische Partei. Die reichsfreundlichen Parteien haben, soweit sich übersehen läßt, nirgends an Slimmenzahl verloren, in vielen neuen Gebieten dagegen Feld gewonnen.
Zn einem endgiltigen Urtheil über diese fast noch wichtigere Frage, als die Frage nach den oft vom Zufall beeinflußten eigentlichen Wahlergebnissen, kann man aber erst dann kommen, wenn das statistische Bureau des deutschen Reichs die Wahlakten von 1877 in derselben vielseitigen Weise bearbeitet haben wird, wie dies mit den Wahlakten von 1871 und 1874 (vgl. Statistik des deutschen Reichs, Band VIII, Heft II und Band XIV, .Heft III, Abtheilnng 2) geschehen ist.
Dagegen gibt uns die Betrachtung unserer Karte und die sich hierbei von selbst ergebende Beobachtung, daß die Ergebnisse der allgemeinen direkten Wahlen zum deutschen Reichstage bisher an gewisse geographische Bedingungen geknüpft waren nnd in dem kartographischen Bilde sich eine gewisse Regelmäßigkeit oder, wenn man will, Gesetzmäßigkeit finden läßt, ein Recht zu behaupten, daß diese geographischen Faktoren auch in Zukunft werden geltend bleiben.