Heft 
(1878) 22
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hatte, erhielt bei Tschataldja den Oberbefehl, um aus dem Chaos von Truppen, von Bewaffneten und von Flüchtlingen in Eile ein Heer zu schaffen.

Die Aussichten für die Verteidigung waren geringe; denn bei der großen Ueberlegenheit der Russen an Infanterie und Artillerie war auf glückliche Abwehr ihrer Stürme nicht mehr, wie einst bei Grivica und Radischewo zu rechnen. Auch mag das schwache Heer schon in jener Verfassung gewesen sein, in welcher der Soldat nicht mehr Kämpfen will. Damit nimmt jede Hoff­nung auf den Sieg ein Ende.

Doch kam noch weiteres Unheil hinzu, um den Abschluß des Waffen­stillstandes und mit ihm den der Friedenspräliminarien zu beschleunigen. Vor dem Heranmarsche der Sieger strömte eine förmliche muhamedanische Völkerwanderung der Hauptstadt und den Küstenplätzen des Marmarameeres zu. Sie füllte deren Straßen mit Bildern der Noth und des Elends und drohte für die christliche Einwohnerschaft die furchtbarste Geißel zu werden. Gewalttaten bezeichneten ihren Weg, wie einst den der abendländischen Kreuzfahrer, welche auf denselben Straßen zogen.

Die russische Kavalleriebrigade Strukosf ging von Adrianopel sofort gegen Lüle Burgas vor. Ihr folgte nach der thracischen Hauptstadt am 22. Januar die Avantgarde der LOten Division*), dann diese selbst und das ganze 4te und 5te Armeekorps. Weiter östlich war von Jamboli gegen Kirklissa das Ute Korps im Anmarsche. Westlich Adrianopel an den Abhängen des Rhodope­gebirges breitete sich die Armeeabtheilung General Gurkos**) aus. Die beiden Schützenbrigaden, die Bulgaren, die 3te Division und zahlreiche Kavallerie erreichten ebenfalls Adrianopel und seine Umgebung.

Avantgarden gingen nach Kirklissa, Baba Eski und Uzunköpri***) voraus.

Am 26ten Januar abends traf auf der schnell wiederhergestellten Eisen­bahn von Hermanli der Großfürst Nikolaus mit seinem Stabe ein. In der Begleitung befanden sich auch die türkischen Unterhändler.

Bei Ädrianopel kam es zu einem vorübergehenden Halt der Armee, den der Waffenstillstand zu einem dauernden gemacht hat. Rur die Kavallerie gelangte noch bis Tschorlu. Ein kahles Plateau mit geringer Kultur und wenig -Ortschaften liegt zwischen der alten und neuen Hauptstadt des Türkenreiches und vor dem Marsche gegen den Bosporus wären noch umfassende Ver­pflegungsdispositionen nothwendig gewesen.

Während der letzten Januartage wurden auch nördlich des Balkan die Fortschritte der Russen sichtbar. Das Dobrudschakorps hatte am Men Januar vor Bazardschpk ein Gefecht mit türkisch-egpptischen Truppen. In der Nacht darauf räumten diese den provisorisch aber stark befestigten Ort und zogen nach Varna ab.

Die Lomarmee besetzte inzwischen am 27ten Osmanbazar, am 28ten Januar Rasgrad, das bekannte Bollwerk der Donauarmee, in welchem zu Beginn des Sommerfeldzuges Muschir Achmed Eyubs Korps stand. Ohne Kampf wichen hier die türkischen Vorposten aus und zogen sich in die Festungen zurück, das freie Feld dem Gegner überlassend.

Wie die vier großen ostbulgarischen Festungen, so wurde auch Widdin endlich vollständig isolirt. Nach lebhaftem Kampfe auf seiner Westseite voll­endeten die Rumänen die Cernirung und nahmen die verschanzten Dörfer Smrdan und Jnovo am Fuße des Glacis. Die Brigade Cantili hatte sich inzwischen südlich gegen die Bergveste Belogradschick gewendet, die, an der Straße von Widdin nach Nisch gelegen, den Eintritt in den Nikolajapaß ver­wehrte. Hier ging die Einschließung der nur 2000 Mann starken Garnison ohne Gefecht vor sich.

Größere Fortschritte als die Rumänen haben die Serben gemacht, die ein fast unvertheidigtes Gebiet vor sich sahen, seit sie Nisch genommen. Die Hauptmacht unter Oberst Leschjanin wendete sich gegen Kursumlja, 7 Meilen südwestlich Nisch. Während der Belagerung jenes Platzes hatte schon einmal ein serbisches Detachement den Ort besetzt, ihn jedoch vor stärkeren türkischen Abtheilungen räumen müssen. Nunmehr wurde er wiedergenommen, Hasiz Pascha, der türkische Oberbefehlshaber, auf dem südlich davon gelegenen PlatenuPetrova gora angegriffen und geschlagen, dann derWeg nach Pristina*) fortgesetzt. Eine zweite serbische Kolonne wendete sich über Leskowatz, Wranja, Gilan gegen Katschanik und Uskup. Bei Wranja hatte sie ein letztes ernstes Gefecht. Sie stürmte am 1. Februar die verschanzte Stadt und nahm darin 4 reguläre Bataillone und zahlreiche Freischärler des Feindes unter Rassim Pascha gefangen. Auch gegen Köstendil streiften die Serben, während eine russische Partei die Stadt selbst besetzte.

Von den Montenegrinern ist seit dem Falle von Antivari nichts von Be­deutung zu melden. Skutari blieb in türkischer Hand. Auch der kürze Einfall der Griechen in Tessalien, der am 3. Februar begann, ist bekanntlich ohne weitere Folgen geblieben.

Am 3l. Januar Abends 6 Uhr war in Adrianopel der Waffenstillstands­vertrag geschlossen worden, der einem Ergeben auf Gnade und Ungnade von Seiten des erschöpften türkischen Reiches an Rußland gleich kam. Er stellte den eben schwer errungenen Sieg erst sicher und vervollständigte ihn in einer Weise, wie es mit den Waffen in der Hand erst nach Wochen, ja nach Monaten weiterer blutiger Kämpfe möglich gewesen wäre.

Silistria, Rustschuck, Belogradschick, Widdin in Europa und Erzerum auf dem asiatischen Kriegsschauplätze werden vertragsmäßig von ihren Be­satzungen an die Russen übergeben.**) Die Linien von Tschataldja aber fielen in die neutrale Zone und die Trümmer des türkischen Heeres mutzten sie verlassen, um sich nach der nun ganz schutzlosen Hauptstadt zu wenden.

Dies Ende des blutigen Dramas zeigt recht deutlich, welche Verschiebung in den politischen Verhältnissen Europas seit 1870 vorgegangen ist. Von den acht Kriegen Rußlands gegen die Türkei waren vier entschieden glück­lich. Erst dieser achte hat aber wirklich entscheidende Erfolgs gebracht, weil Rußland zum ersten Male seinen Sieg ohne ängstliche Rücksicht auf die Zu­stimmung der Westmächte ausnutzen durfte. Es war zum Bewußtsein seiner Kraft gekommen und jene spielten nicht mehr die Rolle, wie bis vor zehn und zwanzig Jahren, da selbst ein Napoleon III. dem Continent Gesetze gab, und England bei geschickter Verknüpfung der Interessen leicht einen Bundes­genossen hätte finden können.

Der Abend des 31. Januar hat die Russen gänzlich zu Herren der Si­tuation gemacht. Im Besitze der Donaufestungen dürfen sie nicht für ihre Verbindungen mit der Heimat fürchten, und jede Stunde kann sie zugleich nach

') Vom 4 Avmcekvrp?.

S. und Gardekorps.

Siche Kriegskarte des Daheim.

-h) Pristina selbst bleibt indessen von den Türken beseht. 7 t) Bezüglich Batnm's widersprechen sich die Nachrichten.

Konstantinopsl führen. ;Sie aufzuhalten, ehe sie dorthin gelangten, wäre einem energischen Alliirten.der Türkei wohl möglich gewesen. Sie vom Bosporus zu vertreiben, wenn sie einmal dort stehen, möchte stärkere Armeen erfordern, als selbst die Transportflotte Großbritaniens sie an ferne Küsten zu schaffen vermag.

Den Diplomaten gehört der Rest der Arbeit. Die Waffen ruhen. Ein blutiger mehrjähriger Kampf ist zu Ende. Mit der Erhebung der bosnischen Rajah von 1875 begann er, mit den Schlachten im Schipkapasse und bei Philippopel im Januar 1878 endete er. Alles Interesse koncentrirt sich auf den dritten und letzten Akt, den Krieg Rußlands und seiner Verbündeten gegen die Türkei.

Seine Dimensionen sind viel gigantischer geworden, wie sich bei seinem Beginn voraussehen ließ. Russen, Rumänen, Serben und Montenegriner haben gemeinsam an 110,000 Mann auf den Gefechtsfeldern verloren, ehe es ihnen nach neunmonatlichen gewaltigen Anstrengungen glückte, das alternde Osmanenreich niederzuwerfen, von dem man zuvor glaubte, der leiseste An­stoß müsse es über den Haufen werfen.

Diese ganz unerwartete Kraftentwicklung des türkischen Staates wird die historisch fesselnde Erscheinung dieses Krieges bleiben. Man muß be­denken, daß hier ein weit verstreutes Volk von nur 15 Millionen der ge­schlossenen Masse von 90 Millionen gegenüberstand, daß jenem im eigenen Lande Gefahr und Aufruhr drohte, eine jammervolle Verwaltung, die traurigste Finanzlage von der Welt seine Anstrengungen hemmte, diesem hingegen alle Mittel zu Gebote standen, seine Ueberlegenheit fühlbar zu machen. Trotz des scheinbaren Verfalles hat seit den Tagen Mahmud II. doch eine allmäh­liche Erstarkung des Reiches stattgefunden. Die so viel geschmähte Regierung Sultan Abdul-Aziz aber leistete darin geradezu Großes Sie schuf ein statt­liches Heer und eine Flotte ersten Ranges.

Nur die materielle Erschöpfung entschied endlich gegen die Türkei. Wäh­rend die zahllosen Schaaren der übrigen muhamedanischen Grenznachbarn Rußlands vor schwachen Kolonnen auseinander stoben, ist es kaum ein Zweifel, daß die Südarmee des Großfürsten Nikolaus noch heute in Bulgarien oder an der Donau stünde, wäre es den Türken gelungen, ihr numerisch gleich stark zu bleiben. Nur am Lom hielten sie ihren Gegnern an Zahl bis zum letzten Stadium des Krieges die Wage. Dort waren sie durchweg glücklich.

Mit diesem Hinweise aber soll nur ihnen Gerechtigkeit widerfahren, keine Herabsetzung der russischen Leistungen gemeint sein. Den Russen fiel die schwierigere Rolle des Angreifers zu, für welche trotz ihrer größeren Zahl im ganzen, doch ihre Uebermacht an den entscheidenden Stellen zu Anfang nicht genügend war.

Auch an bedeutenden Heerführern fehlte es den Osmanen nicht. Männer wie Osman Pascha, wie Moukhtar, Suleyman, Fuad Pascha lehren, wessen dis türkische Race fähig ist. Es fehlt ihr nicht an Gaben, dasselbe zu leisten, wie die Kulturvölker des Westens.

Forscht man nun nach dem Grunde, welcher trotz des Aufschwunges, dessen Spuren das Reich bei seinem Sturze noch zeigte, doch zur Katastrophe führte, so bleibt man bei der Thatsache stehen, daß jener Aufschwung ein rein äußerlicher war und daß ihm die sittliche Basis fehlte. Wäre es dem muhamevanischen Elemente gelungen, in den letzten Jahrzehnten das christliche sich durch ein mildes Regiment auch nur in einigen Provinzen willig dienstbar zu machen, so hätten in der entscheidenden Stunde die Kräfte ausgereicht. Ja es wäre voraussichtlich garnicht zum Kriege gekommen. Allein alle An­strengungen waren nur aus die Kräftigung der rohen Gewalt, die Befestigung der Säbelherrschaft gerichtet, nicht auf Versöhnen und Ausgleichen.

Dies Streben hat Erscheinungen hervorgerufen, wie die fluchbeladene Tscherkesseneinwandernng, welche jeden Frieden unmöglich macht.

Freilich hängt mit alledem der religiöse Fanatismus des Islam eng zu­sammen und eine Rettung des Reiches wäre vielleicht nur bei einer recht­zeitigen Umgestaltung des religiösen Lebens möglich gewesen.

Vomlrein militärischen Gesichtspunkte aus fesselt zunächst die zäheund erfolgreiche Defensive der Türken den Forscher. Plewna und seine berühm­ten Schanzwerke werden künftig eine Fundgrube für das Studium werden. Der Beweis ist dort geliefert, was selbst mangelhaft ausgebildete Truppen bei der heutigen Bewaffnung hinter Wall und Graben zu leisten vermögen. Aehnliches zeigen einzelne Momente des armenischen Feldzuges, so nament­lich das Gefecht von Zewin am 25. Juni und die Vertheidigung von Batum, wo noch neuerdings am 31. Januar ein letzter Angriff der Russen glücklich, wie alle übrigen, zurückgewiesen wurde.

Die Unmöglichkeit, lange Fluß- oder Gebirgslinien dauernd zu halten, hätte kaum noch der neuen Beispiele an der Donau und dem Balkan be­durft. Dagegen läßt sich aus den bedeutenden Leistungen der Türken im Seetransporte größerer Truppenmassen ein neues Bild gewinnen.

Aus russischer Seite verdienen zu Beginn des Krieges die systematischen Vorbereitungen für den Donauübergang und dieser selbst Beachtung. Bis­her als einziges Beispiel ihrer Art stehen die glücklichen Unternehmungen der Torpedoboote da. Dann folgen die großartigen Maaßnahmen zur Ver­sorgung der Armee in Bulgarien mit ihren Mängeln zu Beginn und ihren staunenswerthen Resultaten am Ende des Krieges. Daß beim Balkanüber- gange, als gleichzeitig der Eisgang dis Donaubrücken zerstörte, die Armee vor Noth bewahrt blieb, verdient volle Anerkennung.

Die Operationen des Januar aber sind mustergiltig, mit ihren kombi- nirten Angriffen auf die Vertheidiger der Gebirgspässe und ihrer Ueberwin- dung von Naturhindernisssn. Für eine so zahlreiche Armee gibt es kein ähnliches Beispiel in der Geschichte.

Verhängnißvoll wäre es, aus dem Mißlingen des ersten russischen An­griffs einen Schluß auf russische Kriegstüchtigkeit und russische Kraftent­faltung in einem künftigen Kriege zu ziehen. Die Ursache war lediglich ein Rechenfehler über die türkische Armee, und diesen Fehler machte nicht Ruß­land allein, sondern mit alleiniger Ausnahme Englands wohl ganz Europa. Das wesentlichste Hemmnis; Plewna aber schufen die Russen sich selbst durch ihre unzeitigen und unzweckmäßigen Angriffe. Ohne diese hätte der Kampf 4 Monate früher beendet sein können.

Die genaue Geschichte dieses Krieges wird ohne Zweifel weit mehr werthvolle Entdeckungen für das Studium eröffnen, als hier angedeutct werden konnten. War es doch der wesentlichste Zweck dieser Zeilen, den Leser durch das Wirrsal der Nachrichten zu leiten, ihm Mühe zu sparen, und vollkommne Täuschungen zu verhüten.

Fry. v. d. Goltz-