Sehr anders, wie sich denken läßt, verliefen mittlerweile die Plaudereien unserer drei jungen Mädchen, von denen heute Renate durch besondere Lebhaftigkeit, Marie durch besondere Zurückhaltung sich auszeichnete. Sie hatte, aller Herzlichkeit unerachtet, mit der sich ihr Kathinka, wie schon bei früheren Hohen-Vietzer Besuchen, so auch diesmal wieder genähert hatte, doch das bestimmte Gefühl, daß es sich für sie zieme, ihre schwesterlich-intime Stellung zu Renaten so wenig wie möglich geltend zu machen und nur bei gegebener Veranlassung, am liebsten nur wenn aufgefordert, sich an dem Gespräch der beiden Cousinen zu betheiligen. Dieses Gespräch selbst war ihr Freude genug und wurde es mit jedem Augenblicke mehr, seit Kathinka, die halb sitzend, halb liegend den rechten Fuß auf die Sopha- polster gezogen hatte, von Berliner Gesellschaftszuständen und zuletzt von einer großen Soirte bei dem alten Prinzen Ferdinand zu sprechen begann.
„Das ist der Vater von dem Prinzen Louis, der bei Saatfeld siel?" fragte Renate.
„Was gab' ich drum," fuhr sie fort, nachdem ihre Frage bejaht worden war, „wenn ich einer solchen Soiröe beiwohnen könnte! Papa hat cs mir für diesen Winter versprochen; aber die Zeiten sehen nicht darnach aus."
„Du verlierst weniger dabei, als Du meinst. Es sind Gesellschaften wie andere mehr. Du siehst Generale, Grafen, Präsidenten, als wärest Du in Ziebingen oder in Guse; die Schleppen sind etwas länger, und ein paar hundert Lichter brennen mehr. Das ist alles."
„Aber der Prinz wird doch keine Krachs und Bammes um sich versammeln?"
„Nicht ausschließlich; aber ebensowenig kann er sie vermeiden. Er hat keine Wahl; Stellung und Geburt entscheiden, nicht der Manu. Du siehst auf die Auserwählten von Schloß Guse mit so wenig Respekt, weil Du sie kennst; aber laß Deine Neugier und Eitelkeit erst einen einzigen Winter laug befriedigt sein, und es ist mit dem Zauber dieser Hofgesellschaften für immer vorbei."
„Ich zweifle, wenn ich auch glaube, daß Du nicht anders sprechen kannst. Du erhebst eben Ansprüche, die mir fremd bleiben würden. Ich für mein Theil würde zufrieden sein, einen Blick in diese Welt thun zu dürfen, in der jeder etwas bedeutet. Nimm den alten Prinzen selbst; er ist der Bruder Friedrich des Großen; das allein genügt, ihn mir Werth zu machen; ich könnte nicht ohne Ehrfurcht auf ihn blicken. Er würde mich vielleicht ignoriren oder ein an und für sich gleich- giltiges Wort an mich richten, aber es würde mir nicht gleichgültig sein, ihn gesehen oder gesprochen zu haben."
Kathinka lächelte.
„Du lachst mich aus," fuhr Renate fort, „aber denke, daß ich das Leben eines armen Landsräuleins führe, öde und einsam, und statt der Mutter nur die gute Schorlemmer im Haus. Gib mir die Hand, Marie; Du bist mir Trost und Freude, aber Du kannst mir keinen Hofball ersetzen. Wie das alles blitzen und rauschen muß! Und dann der König selbst. Nenne mir ein paar Namen, Kathinka, daß ich mir eine Vorstellung machen kann."
„O da ist der alte Graf Reale, der Gemahl der Oberhofmeisterin, der vor zwei Jahren aus Besuch in Guse war, und der Hofmarschall von Massow auf Steinhöfel, und der Herr von Eckardtstein auf Prötzel und Herr von Burgsdorff ans Ziebingen, und Graf Drosselstein aus Hohen-Ziesar."
„Aber die kenn' ich ja alle."
„Eben darum Hab' ich sie Dir genannt."
„Und die fremden Gesandten!" sagte Renate, der kurzen Unterbrechung nicht achtend. „Wie gern säh' ich den Grafen von St. Marsan und den Minister Hardenberg, an dem Papa beständig zu mäkeln und zu tadeln hat. Ich denke mir ihn liebenswürdig. Apropos! Ist auch Dein Graf Bninski, verzeihe, daß ich ihn so nenne, bei Hofe vorgestellt worden?"
„Nein. Er lehnte es ab."
„Ach, nun weiß ich, warum die Hofgesellschaften so wenig Gnade vor Dir finden. Lewin hat mir den Grafen beschrieben; aber ich möcht' ihn von Dir beschreiben hören."
„Denke ihn Dir als das Gegentheil von dem Conrector, dem ich heute Vormittag das Glück hatte vorgestellt zu werden. Wie hieß er doch?"
„Othegraven!"
„Richtig, Othegraven. Ein hübscher Name, ursprünglich adlig. Aber diese bürgerliche Abart, welche pedantische Figur! Er hält sich gerade, aber es ist die Geradheit eines Lineals."
„Du mußt ihn auf das hin ansehen, was er ist."
„Dann kann er als vollkommen gelten; denn er ist der Schulmeister, wie er im Buche steht."
„Ich sehe doch, wie Recht Tante Amdlie hatte, als sie neulich von Dir sagte: Kathinka ist eine Polin. Es ist deutsch, wie mir erst gestern wieder unser Seidentopf versicherte, von blos äußerlichen Dingen absehen zu können. Meinst Du nicht auch?"
„Nein, Närrchen, ich meine es nicht; es ist nur deutsch, sich in diesen und ähnlichen Eitelkeiten zu gefallen. Und ich will auch nicht daran rütteln, ebenso wenig wie an den Verketzerungen, die über uns Polen von langer Zeit her im Schwünge sind. Nur zweierlei wird man uns lassen müssen: Leidenschaft und Phantasie. Und nun laß Dir sagen, Schatz, wenn es etwas in der Welt gibt, das im Stande ist, über Aeußerlichkeiten hinweg zu sehen, so sind es diese beiden: Leidenschaft und Phantasie. Der Graf ist ein schöner Mann, aber ich versichere Dich, er wäre mir derselbe, wenn er auch diesem Othegraven wie sein Zwillingsbruder gliche. Denn bei der vollkommensten äußeren Ähnlichkeit würde diese Ähnlichkeit doch aushören zu sein, weil er eben innerlich von Grund aus ein anderer ist."
„Ein anderer. Aber ob ein besserer?"
„Es genügt ein anderer. Es gibt prosaische und poetische Tugenden. Laß uns über den Werth beider nicht rechten. Ich möchte Dich nur dahin bekehren, daß es nicht Form und Erscheinung ist, wie wohl ich beide zu schätzen weiß, was mir den Grafen Werth und angenehm macht."
„Und so wär' es denn was?"
„Beispielsweise seine Treue. Denn, unglaublich zu sagen, die Polen können auch treu sein."
„Es gilt wenigstens nicht als ihre hervorragendste Eigenschaft."
„Um so mehr ziert sie den, der sie hat. Und ich möchte Bninski dahin zählen. Als Kosciusko im letzten Treffen, das über Polen entschied, am Saume eines Tannenwäldchens lag, das er drei Stunden lang gegen Uebermacht vertheidigt hatte, stand ein Fahnenjunker, ein halbes Kind noch, neben ihm und deckte den von Blutverlust ohnmächtig Gewordenen mit seinem jungen Leben. Er hätte sich retten können, aber er verschmähte es. Endlich überwältigt, bat er um eins nur: den gefangenen Feldherrn pflegen und dieselbe Zelle mit ihm heilen zu dürfen. Dieser Fahnenjunker war der Graf."
Marie, die bis dahin von ihrer Handarbeit nicht aufgeblickt hatte, sah Kathinka mit ihren großen Augen an.
Kathinka aber, den Blick freundlich erwidernd, fuhr fort: „Siehe, Renate, das war Treue; nicht solche, wie Ihr sie liebt, die jeden heimlichen Kuß zu einer Kette für Zeit und Ewigkeit machen möchte, aber doch auch eine Treue und nicht der schlechtesten eine. Und wie der Fahnenjunker war, so blieb er. Er war mit in Spanien. Das polnische Lancierregiment, das er führte, Tubal hat mir davon erzählt, nahm einen Engpaß; den Namen habe ich vergessen; aber sie sagen, der Fall stehe einzig da in der Kriegsgeschichte. Unter den wenigen, die den Tag überlebten, war der Graf. Nach Paris schwerverwundet zurückgeschafft, empfing er aus des Kaisers Hand das rohe
Band der Ehrenlegion. Und ich darf sagen, es kleidet ihn_
Nein, Renate, Du verkennst mich und Dich nicht minder. Wir empfinden gleich. Alles Poetische reißt uns hin, und Steifheit und Pedanterie, auch wenn sie Othegraven heißen, lassen uns kalt. Das ist nicht polnisch, das ist weiblich. Frage Marie."
„Ich werde die Frage nicht thun," scherzte Renate, „denn Du mußt wissen —"
„So will ich antworten, ohne gefragt zu sein," unterbrach Marie mit Unbefangenheit. „Alle Welt schätzt den Conrector, unser Pastor liebt ihn "