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Km lebender Mikrokephale.
Nachdruck verboten- Ges. v. IN/VI. 70.
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Der bekannte Naturforscher und ehemalige „Reichsregent" Karl Vogt war es, welcher die sogenannten „Affenmenschen" für das größere Publikum in Scene setzte und eine Ansicht über diese unglücklichen Geschöpfe verbreitete, welche der großen Masse recht plausibel klang, die heute wohl noch von ihr geglaubt wird, von den Männern der Wissenschaft aber vollständig verworfen worden ist.
In einem Kloster am Rhein traf Vogt einen achtzehnjährigen Menschen, Emil N., welcher einen im hohen Grade verkümmerten Schädel und in seinem ganzen Auftreten thierisches Wesen zeigte. Solche Geschöpfe, den Aerzten schon lange bekannt, werden wissenschaftlich als, Mikrocephalen oder Kleinköpse bezeichnet; früher weniger beachtet, tauchen sie jetzt mehr und mehr auf und werden theils aus Spekulation, theils zu wissenschaftlichen Zwecken vorgeführt.
Auch jetzt werden wieder verschiedene dieser Mikrocephalen in Deutschland gezeigt, darunter derjenige, dessen Abbildung nach dem Leben wir hier bringen. Die Eltern dieses armen Wesens sind durchaus gesunde und normale Menschen, welche vier Kinder haben, zwei gesunde und zwei mikrocephale.
Zu den letzteren gehört das jetzt umhergeführte Mädchen, welches im Jahre 1863 im nördlichen Ungarn geboren wurde und in seinen Gesichtszügen den Typus des jüdischen Stammes zeigt. Es fällt zunächst durch seine außerordentliche Kleinheit auf, denn wiewohl fünfzehn Jahre alt, erscheint es doch nur wie ein vierjähriges Kind. Der ganze Körperbau ist schlank, die Gliedmaßen sind mager und die Beine an den Knien etwas X - förmig zusammengedrückt.
Der Schädel ist ungemein klein, nur wenig größer als der eines neugeborenen Kindes; die Stirn weicht sehr stark zurück, das Gesicht springt dadurch hervor, namentlich die gebogene Nase und der Oberkiefer, wodurch das Gesicht
den Ausdruck eines Vogelkopfes erhält. Die schief vorstehenden eigenthümlich gestalteten Zähne bezeichnet sein Führer als „Hundsgebiß". Die blonden Haare reichen weit in die Stirne hinein und sind kurz geschoren, so daß man die Form des wenig über faustgroßen Kopfes genau betrachten kann.
Das Kind geht mit etwas gekrümmtem Rücken, ist dabei behende, und hat zuweilen schnellende Bewegungen; der Blick ist oft unruhig und die Gegenstände werden unbestimmt von ihm fixirt. Setzt ihm der Führer ein Mützchen auf, so nimmt es dasselbe mit wirklich affenartiger Behendigkeit ab und wirst es fort. Es ist genau dieselbe Bewegung, die ein abgerichteter Affe macht, dem sein Herr befiehlt, den Hut zum Gruße zu lüsten. Die Arme trägt es am Oberkörper emporgezogen oder über der Brust gekreuzt. In größere Erregung gerätst es nur dann, wenn kleine Knaben zu ihm kommen; dann grunzt es, hat auch wohl einen lachenden Zug im Gesichte und erhebt die Arme zu einer Bewegung, wie man sie etwa macht, wenn man thut, als ob man fliegen wolle. Zuweilen eilt es auf die Knaben zu uud versucht sie zu kämmen, wobei es den Kamm wohl verkehrt in die Hand nimmt, solchergestalt rein nachahmend, ohne den Zweck zu erkennen.
Die normalen Geistesfunktionen dieses mikrocephalen Mädchens sind kaum die eines halbjährigen Kindes. Es spricht gar
nichts und gibt nur unartikulirte Laute von sich; auch versteht es durchaus nicht, was andere sprechen, besitzt aber ein gutes Gehör. Seine Sinne sind thätig, aber nutzlos. Das Schmerzgefühl scheint nicht groß bei ihm zu sein; Wunden au der Hand kratzt es weiter und immer wieder aus, so daß sein Wärter Mühe hat, die Heilung zu bewerkstelligen, da es die Verbände losreißt. Noch immer ist das fünfzehnjährige Geschöpf unreinlich; es kann nicht selbst essen und wird daher gefüttert. Die Bewegungen, die es beim Essen und Trinken macht, sind entschieden affenähnlich. Es knirscht oft mit den Zähnen, zeigt aber keine Furcht vor den Beschauern, wenn es in seinem rothen Röckchen auf die Schaubühne gebracht wird, von der es mit unruhigem Blick auf die Besucher schaut.
Bei dem großen Gehirnmangel ist der thierische Zustand des armen Jdiotenkindes erklärlich. Das Gehirn eines solchen Mikrocephalen wiegt nämlich nur 300 bis 500 Gramm, während ein normales Menschenhirn etwa 1500 wiegt. Mit einem so
zurückgebliebenen Gehirn vermag es natürlich keine Gedanken zu erzeugen und so mangelt ihm auch das Wichtigste, was den Menschen als höheres Wesen von den Thie- ren unterscheidet. Das Gesicht bleibt aber trotz seines stupiden Ausdruckes iu seinem ganzen Aussehen und Merkmalen doch immer menschlich, wenn auch die vorspringenden Kiefern an die niedrigsten Menschenrassen gemahnen, während am Körper, von der Kleinheit abgesehen, wenig auszusetzen ist.
Diejenigen, welche um des Geldverdicnstes willen solche Wesen umherführen, pflegen gewöhnlich sich auf Karl Vogt zu berufen und das Wort „Affenmensch" in den Vordergrund zu stellen. Das Thic- rische, Mißgebildete dieser Geschöpfe, die in ihrer natürlichen Entwickelung gehemmt sind, erklärte Vogt als einen Anklaug an die thierische Abstammung des Menschen, an einen gemeinsamen Urvater des Menschen und Affen. Er erläutert die Erscheinung aus dem sogenannten Atavismus, der Urahnenbildnng, also aus der bekannten Erfahrung, daß bei Menschen und Thieren sich thatsächlich die Erscheinung zeigt, wie Enkel und Urenkel in ihrem geistigen und körperlichen Wesen, in ihren Krankheiten und Mißbildungen, auf Großväter und Urgroßväter zurückschlagen. Von diesem Atavismus ausgehend hat nun Karl Vogt die Behauptung aufgestellt und zu begründen versucht, daß die menschlichen Mikrocephalen eine Art von Rückschlag nach der Bildung jenes noch heute nicht aufgefundenen vorweltlichen, längst ansgestorbenen Stammvaters sei, von dem gemeinsam die heutigen Affen, wie die heutigen Menschen in grauer Vorzeit sich entwickelt haben sollen. Er gründete also seine Hypothese auf ein durchaus nicht vorhandenes, bis heute vergeblich gesuchtes und durchaus problematisches Wesen.
Der erste, welcher sich gegen Karl Vogt erhob, war der berühmte Tübinger Mediciner von Luschka. Er zeigte, wie Vogt blos nach der knöchernen Hülle, nach dem Schädel des Mikrocephalen urtheilte, ohne ein einziges wirkliches Gehirn untersucht zu haben, was dagegen von Luschka sehr genau tstat. Und sein Ergebniß? Erjagt: „In Erwägung aller am mikrv- cephälischen Hirne obwaltenden Verhältnisse sehe ich mich um-