Liltra-Aeikage zum Daheim Ao. 27. 1878.
Erläuterung zu den Historischen Karten der Türkei.
„Aber heute, wie man gemeiniglich glaubt, ist auch die Rolle der Pa- dischahe ausgespielt und wird, eigentlich das erste Mal seit 1800 Jahren, vielleicht in turzer Zeit die große Erbschaft der Byzantinerwelt ohne Testament und ohne Codicill vacant. Zwar noch ist der Besitzer nicht verblichen und im Veilchenduft bithynischer Lüste sind die Agonien lang. Aber ist das Leben aus den extremen Theilen des Riesenkörpers nicht schon entflohen, und sieht man denn nicht, wie es im Herzpunkt allein noch krampfhaft in Fieberhitze und galvanischen Processen gegen die Verwesung kämpft?"
So schrieb vor einem Menschenalter der Fragmentist Fallmerayer und trotz des Schlages, der jetzt die Türkei getroffen, trotz der Einbuße an Land, die sie jetzt erleidet — es ist weit über die Hälfte ihres europäischen Gebietes
— dauert die Agonie noch fort. Aber es ist nur der vorletzte Akt, welcher jetzt schließt und mag ein Kongreß noch so streng die Zukunft der Balkanhalbinsel formuliren, noch so genau die Grenzen der einzelnen souveränen und halbfouveränen Staaten festsetzen, die jetzt die buntscheckige Schabracke des illyrischen Dreiecks bilden — noch einmal wird der Vorhang zum letzten Akte sich dort erheben und die rothe Farbe unserer Karten, welche das noch der Türkei gehörige Gebiet anzeigt, wird vom europäischen Boden verschwunden sein.
Lange schon hat der Holzwurm das türkische Reichsmark hohl gefressen und nur die morsche Hülle übrig gelassen, die jetzt auch zusammenbricht. Es ist nicht immer so gewesen. Die vier Karten, die wir heute bringen, zeigen, daß eine gewaltige Ausdehnungskraft im Türkenthume lag und daß es ungeheure Gebiete beherrschte. Einst lief die Nordgrenze an den Karpathen und nicht fern von Wien. Aber auf den Grundsatz der Eroberung begründet, von Anfang an auf die Assimilirung der unterjochten Völker verzichtend, trug der türkische Staat den Keim des Verderbens in sich, da er zu seinem Gedeihen eine ununterbrochene Reihe kriegstüchtiger und staatsmännischer Herrscher voraussetzte. Als diese an der Spitze des eroberungslustigen Volkes standen, da dehnten die Grenzen sich mächtig aus; als sie fehlten und entnervte Sultane im Serail zu Stambul ein üppiges Schwelgerleben führten, da ging es rückwärts mit der Türkei.
Erste Karte. Zerrüttet, in der Zersetzung begriffen lag das oströmische Reich im vierzehnten Jahrhundert da, als die Osmanen, die ihre Herrschaft über Kleinasien erstreckten, an seine Thore pochten. Zu Brussa in Bithynien thronten seit 1326 die türkischen Sultane, über das Marmara-Meer hinüberschauend nach den herrlichen Landstrichen Thraciens, von wo die Civilisation des Abendlandes zu ihnen herüberwehte. Murad 1., der das stehende Heer der Türken ausgebildet, faßte zuerst festen Fuß in Europa, eroberte 1357 Gallipoli und breitete sich dann weiter aus; er nahm 1361 Adrianopel, das nun für lange Zeit Residenz der Sultane wurde. Das ganze Innere der heutigen Türkei wurde den Türken unterthan und das oströmische Reich blieb auf Konstantinopel und einige unbedeutende Landstriche beschränkt. Noch hielten sich Serben, Bosnier, Albanesen, Walachen und Ungarn in selbständigen Reichen; aber auch sie sollten bald der Türken Macht fühlen. Im Jahre 188Ü eroberte Murad Bulgarien, und in demselben Jahre vernichtete er auf den: Amselselde das großserbische Reich; Lazar, der letzte Serbenkaiser, fiel, aber auch Murad 1. Rafften nun auch die Ungarn unter König Sigismund sich auf gegen den ihre Südgrenze bedrohenden Feind, so schlug sie doch Sultan Bajasid 1. im Jahre 1396 bei Nikopolis. Nur Albanien hielt sich unter Skanderbegs energischer und unerschütterlicher Führung und im Osten widerstand unter dem letzten der Paläologen noch Konstantinopel.
Zweite Karte. Konstantin XI. war der letzte byzantinische Kaiser. Tapfer, doch fruchtlos kämpfte er mit seinem Feldherrn, dem Genueser Giusti- niani, gegen die ungeheure türkische Uebermacht und fiel heldenmüthig bei der Vertheidigung Konstantinopels, durch dessen Eroberung am 29. Mai 1453 Mohammed II. dem zähen byzantinischen Reiche ein Ende machte. Die kleinen lateinischen Dynasten, die hin und wieder sich in Griechenland behauptet, sowie die in Morea herrschenden Despoten, waren bis 1460 unterjocht. Wenige Jahre später wurden auch Epirus, Albanien und Bosnien erobert. Nun galt es nach Norden zu aufzuraumen. Durch Eroberung der Grenzfestung Belgrad eröffnete 1521 Soliman II. sich den Weg nach Ungarn, welches nun der Gegenstand des ehrgeizigen Eroberungsstrebens der Türken wurde. 1526 fiel Peterwardein, wurden die Ungarn bei Mohacs geschlagen; bald darauf gsrieth Buda (Ofen) in Türkenhand und Ungarn wurde ein türkisches Vasallenreich unter Johann Zapolya. Zum ersten Male rückten nun die Türken 1529 vor Wien, wo aber das Kriegsglück versagte, wie später an dieser Stelle noch einmal. Ungarn wurde aber 1541 vollständig dem türkischen Reiche einverleibt. Von den Inseln im Süden siel 1522 Rhodus, das die Johanniter heldenmüthig vertheidigten, während auf Korfu, den benachbarten Inseln und Kreta sich noch die Venetianer hielten. Unter Soliman II., dem gewaltigsten aller Beherrscher der Osmanen, der von 1519—1566 regierte, erreichte das türkische Reich seine höchste Blüthe. Aber unter seinen Nachfolgern ist schon das Kriegsglück nicht mehr so ausschließlich an die Fahne des Halbmondes gefesselt, denn bereits 1571 siegen die vereinigten christlichen Flotten unter Don Juan d'Austria bei Lepanto über die Türken. Jedoch nach Norden zu wird das Reich noch weiter ausgedehnt; 1596 wurde Erlau in Ungarn erobert und Polen mußte noch 1676 Podolien und einen Theil der Ukraine abtreten; die Insel Kreta war 1669 den Vene- tianern abgenommen worden. Ungarn war in jener Periode, die unsre zweite Karte darstellt, ein großes Schlachtfeld der Türken, aus dem das Kriegsglück schwankte. Bis vor Wien drangen 1683 — zum zweiten Male
— die Türken vor, aber hier erlagen sie den vereinten Anstrengungen der Deutschen und Polen (unter Sobieski) und der Herzog von Lothringen schlägt sie 1684 bei Wischegrad und Waizen und nimmt 1686 Ofen wieder ein; es folgt nun 1687 bei demselben Mohacs, wo einst Soliman II. die
Ungarn vernichtet, nach anderthalb Jahrhunderten eine gleiche Vsrnichtungs- schlacht, die aber diesmal der Türkenherrschaft in Ungarn den Todesstoß versetzt. Wechselt nun auch nochmals das Kriegsglück, so besiegelt doch der Sieg des Markgrafen von Baden 1691 bei Salankemen und des Prinzen Eugen 1697 bei Zenta das Schicksal Ungarns. Die Pforte mußte 1699 den für sie höchst nachtheiligen Frieden von Karlowitz schließen, worin sie Ungarn und Siebenbürgen an den deutschen Kaiser, die Ukraine und Podolien an Polen, Morea und Dalmatien an Venedig abtrat. Nur Temesvar blieb ihr auf ungarischem Boden noch kurze Zeit zu eigen.
In ihrem weitesten Umfange, den unsre zweite Karte darstellt, gehörte die ganze Balkanhalbinsel mit dem heutigen Griechenland und den Inseln des Archipels sowie Kreta zur europäischen Türkei; ausgeschlossen waren nur die ionischen Inseln, wo die Venetianer sich behaupteten. Die Walachei und die Moldau, Siebenbürgen und die Bukowina, Theile Podoliens und der Ukraine, drei Viertheile von Ungarn waren türkisch, zusammen ein Gebiet von etwa 17,500 deutschen Quadratmeilen, ein Reich so groß, wie, Rußland ausgenommen, heute keines in Europa existirt.
Dritte Karte. Auch Temesvar, der letzte türkische Besitz auf ungarischem Boden ging verloren nachdem Prinz Eugen 1716 bei Peterwardein gesiegt hatte, Belgrad 1717 gefallen war und im folgenden Jahre der für die Türkei ungünstige Frieden von Passarowitz geschlossen werden mußte, in welchem ihr allerdings der Besitz Moreas, das den Venetianern abgenommen war, zugesprochen wurde. Die nachfolgende Zeit füllen Kämpfe gegen Rußland aus, die auf dem Boden der Walachai und Moldau spielen und die siegreich sür die Kaiserin Katharina d. Gr. verliefen. Schlug doch Alexis Orlow selbst die türkische Flotte, die der Schrecken des Mittelmeeres war, 1770 bei Tscheschme. Alle diese Kämpfe führten aber zu keiner durchgreifenden Veränderung der Landkarte, da 1774 im Frieden von Kutschuk Kainardschi Rußland die eroberten Donaufürstenthümer wieder herausgab. Auch ein späterer Krieg, in welchem Rußland und Oesterreich gemeinschaftlich gegen die Türkei fochten und den 1791 der Friede von Sistowa beendigte, blieb ohne Einfluß auf die Karte. Erst unser Jahrhundert brachte wieder Aenderungen auf europäischem Boden als der griechische Freiheitskampf ausbrach, als 1827 von England und Frankreich die türkische Flotte bei Navarino vernichtet wurde und der russische Feldherr Graf Diebitsch über den Balkan ging und 1829 den Frieden von Adrianopel diktirte. Die Türkei mußte die Unabhängigkeit Griechenlands anerkennen, das sich unter einem bayrischen Prinzen als Königreich konstituirte; auch wurde damals der Grund zur Selbständigkeit der Donaufürstenthümer gelegt, deren Vereinigung freilich erst 1859 erfolgte und die bis 1877 der Pforte Tribut zahlten. Serbien endlich hatte bereits 1804 unter Georg Tfcherni zum ersten Male die Fahne des Aufstandes gegen die Türkei entfaltet; erfolgreicher war 1815 Milosch Obrenowitsch, der die Selbstregierung durchsetzte und 1817 zum erblichen Fürsten erhoben wurde, während das Fürstenthum als solches erst 1830 förmlich von der Türkei anerkannt wurde, der es gleich Rumänien bis 1877 Tribut zahlte. Montenegro endlich erkannte nur vorübergehend die Oberhoheit der Pforte an, gegen welche es sich in stets wiederholten ebenso blutigen wie tapferen Kämpfen auflehnte. Der große Krimkrieg, in dem noch einmal christliche Mächte an der Seite der Türken gegen Rußland fochten, führte nur eine kleine Veränderung auf der Landkarte herbei; Rußland mußte im Pariser Frieden 1856 einen Theil Beß- arabiens, östlich vom Pruth und nördlich von der Donaumündung an die Donaufürstenthümer abtreten, wodurch es zugleich von der Donau abgeschnitten wurde. Immerhin zählte aber in dieser Periode die europäische Türkei (ohne Serbien, Montenegro und die Donaufürstenthümer) noch 6600 Quadratmeilen mit 8s/) Will. Bewohnern.
Vierte Karte. Sie ist das Ergebniß der blutigen Kämpfe, die wir in den beiden letzten Jahren vor unseren Augen vorübergehen sahen, das Resultat der Politik, welche mit unerschütterlicher Beharrlichkeit Rußlands Herrscher verfolgten, wobei ihnen ihr ganzes begeistertes Volk zur Seite stand. Wir geben hier das Bild der zerstückelten europäischen Türkei, wie dieselbe sich nach dem Frieden von Konstantinopel oder San Stefano darstellt, unbeschadet der Aenderungen, welche noch ein europäischer Kongreß herbeiführen kann. Montenegro, unabhängig geworden, ist bedeutend abgerundet durch Gatzko, Niksitj, Roschaj und den Hafen Antivari. Serbien, gleichfalls völlig unabhängig, hat große Bezirke im Süden bei Nisch, Leskowatz und Nowibazar erhalten. Rumänien, auch des Vasallenjochs entledigt, muß den Theil Beß- arabiens, den es 1856 von Rußland erhielt, wieder an dieses abtreten, empfängt dafür aber die Dobrudscha nördlich der Linie Tuzla (am Schwarzen Meere) und Rassowa ;an der Donau). Die wichtigste Veränderung aber ist das neue Halbsouveräne Fürstenthum Bulgarien, welches das Herz der ehemaligen europäischen Türkei einnincmt und etwa 3400 Quadratmeilen umfaßt; im Norden wird es von der Donau, im Westen von Serbien und Albanien, im Osten vom Schwarzen Meer und inc Süden von den der Türkei gebliebenen Resten und dem Aegäischen Meere begrenzt. An Größe übertrifft es viele europäifche Staaten und ist etwa ein Drittel so groß wie Oesterreich- Ungarn, mehr als halb so groß wie Preußen. Die Einwohnerzahl des neuen Bulgarien wird wohl nicht mehr als 5 bis 6 Millionen betragen, worunter vielleicht 1—2 Millionen Türken, Griechen, Albanesen. Die europäische Türkei selbst ist in zwei Fetzen auseinandergerissen. Im Osten um Konstantinopel und Adrianopel herum liegt der Rest von dem einst so bedeutenden Rumili, etwa 350 Quadratmeilen groß. Der Haupttheil liegt im Westen und ist fast ganz ohne türkische Bevölkerung. Es ist dies Bosnien, die Herzegowina, Albanien, Epirus, Thessalien und ein Theil Macedoniens mit der chalkidischen Halbinfel, vielleicht 2700 Quadratmeilen. Somit ist die europäische Türkei auf wenig mehr als 3000 Quadratmeilen zusammengeschrumpft. Wie lange aber noch wird sie so groß bleiben?