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der Frühling Zeit gehabt, seinen Einzug zu bewerkstelligen.
— Die milden warmen Sonnenstrahlen, die seit Wochen die Mutter Erde geküßt, hatten längst das erste Grün und die ersten Frühlingsblumen hervorgelockt; ja, es war alle Aussicht vorhanden, daß wir weiße Ostern haben würden, weiß von dem Blütenschnee, der die Obstbäume in den Gärten vor der Stadt in verschwenderischer Fülle bedeckte.
Mein Ausflug ließ sich also ganz gut an. Ich wollte die Festtage bei einem Studiengenossen, dessen Vater in einem reizend gelegenen Dorfe Thüringens Pastor war, verleben und von dort aus in aller Muße die schönsten Punkte des schönen Thüringer Landes besuchen.
So war der Charfreitagsabend herangekommen. Ich hatte den Tag mit meinen Eltern in gewohnter Weise still zugebracht, und wir wollten uns. eben rüsten, in die Singakademie zu gehen, um Bachs Matthäus-Passion zu hören, da meldete die Magd, daß ein alter Herr in sehr dringender Angelegenheit mich zu sprechen wünsche. Ich eilte sofort ins Empfangzimmer und erkannte in dem Wartenden meinen würdigen Gönner, den Kon- sistorialrath Weiße.
„Mein lieber Lindow," so ries er, mir beide Hände entgegenstreckend, aus, „ich komme zu Ihnen, Sie um einen großen, großen Liebesdienst zu bitten, nicht für mich, sondern für einen Freund, der meinem Herzen der nächste ist. Werden Sie mir meine Bitte erfüllen?"
„Gewiß, Herr Konsistorialrath, wenn irgend es in meinen Kräften steht."
„Erinnern Sie sich des Pastors Reinhard von Herzfelde? Sie müssen ihn ja mehr als einmal bei mir gesehen haben."
„Ganz recht, und ich habe Sie oft der innigen Freundschaft erwähnen hören, die Sie von Kindesbeinen an mit demselben verbindet."
„Denken Sie, eben erhalte ich die Nachricht vom Tode seiner Frau. Sie ist gestern gestorben und soll also am ersten Ostertage bestattet werden. Selbstverständlich ist Reinhard nicht in der Lage, am Begräbnißtage zu predigen, kann aber auch unter den Amtsbrüdern, die selbst unabkömmlich sind, keinen Vertreter finden. Außerdem trägt er an einem schweren Familienkreuze, das ihn tief, tief darniederbeugt. Kurz, möchten Sie nicht am ersten Festtage in Herzfelde predigen?"
Konsistorialrath Weiße sah mich bei dieser Frage so zuversichtlich an und drückte ineine Hände, die er noch nicht losgelassen hatte, so fest und innig, daß ich in diesem Augenblicke für ihn durchs Feuer gelaufen wäre. Dennoch zögerte ich mit der Antwort.
„Ich weiß, ich weiß," fuhr er fort, „Sie hatten andere Pläne, Sie wollten ruhen und bedürfen allerdings der Ruhe, ich weiß, ich weiß; aber das Bewußtsein, dem Herrn in seiner Gemeinde ein Opfer gebracht, daneben auch sich einen alten Freund znm Dank verpflichtet zu haben, sollte das nicht "
„Nicht doch, Herr Konsistorialrath," unterbrach ich ihn, „Ihren Wunsch zu erfüllen, war ich sofort entschlossen. Meine Erholungsreise kann schon etliche Tage warten. Was mich verstummen ließ, war die Erwägung, daß ich in meinem Leben noch nie eine Osterpredigt gehalten habe."
„So werden Sie die erste in Herzfelde halten, und sie wird um so besser werden, je frischer und ursprünglicher sie Ihrer Feder und Ihren Lippen entströmt. Die Sache ist also abgemacht. Ich bitte Sie nur noch, diesen Brief dem armen Reinhard zu übergeben — Sie sehen, wie fest ich auf Sie gerechnet hatte — und nun will ich gleich telegraphiren, daß Sie morgen mit dem Mittagszuge kommen. Gott befohlen! Gott befohlen!"
Mit diesen Worten war der freundliche alte Herr zur Thüre hinaus.
Die Eltern waren nicht wenig erstaunt, als ich ihnen von der übernommenen Verpflichtung erzählte. Sie gaben mir aber vollständig Recht, daß ich zugesagt.
„Du konntest nicht anders," sagte der Vater.
„Gott wird Dir's lohnen," flüsterte die Mutter und hauchte mir einen leisen Kuß auf die Stirn.
Während die Eltern zur Singakademie gingen, arbeitete
ich an der Predigt, und mein alter Freund hatte sich und mich nicht getäuscht: die Arbeit ging rasch vorwärts. Dennoch war es ein Uhr nachts, als ich die Feder weglegte und mein Lager aufsuchte. Der Vormittag des großen Sabbaths verging unter fleißigem Memoriren schnell genug, und mittags ein Uhr faß ich im Eisenbahncoupö und dampfte der Station Großhagen zu. In anderthalb Stunden war dieselbe erreicht, und nun ging es, nachdem über den Weg die nöthigen Erkundigungen eingezogen waren, froh und hoffnungsvoll in die Welt hinein.
Es war ein wunderschöner Frühlingsnachmittag. Zu beiden Seiten des Weges dehnten sich üppige Saatfelder aus, die im ersten frischen Grün prangten, und aus denen sich zahllose Lerchen aufschwangen, um, immer höher und höher steigend, ihre Lobgesänge dem darzubringen, der ihnen das kurze Leben gegeben und erhalten. Die Dörfer, durch welche meine Schritte mich führten, sahen in der weißen Einfassung blühender Obstbäume besonders lieblich aus, und wo der die Landschaft rechts abgrenzende Wald sich der Straße näherte, konnte ich den grünen Schimmer wahrnehmen, den das erste Anfbrechen der Knospen hervorznrufen Pflegt.
Fast zwei Stunden war ich gewandert, als Herzfelde vor mir auftauchte. Das Dorf machte einen durchaus freundlichen Eindruck; es lag in einem Thale, welches gegen Morgen von einer Anhöhe geschlossen wurde. Auf dieser Anhöhe stand die alterthümliche Kirche; seitwärts ragte aus der Mitte blühender Bäume das rothe Dach des Pfarrhauses hervor.
Als ich das Dorf betrat, begannen die Glocken eben in vollen Klängen das heilige Fest einznläuten. Das Gasthaus war bald gefunden und in demselben zum Glück auch ein reinliches, wohnliches Zimmer. Ermüdet und hungrig wie ich war, that ich der einfachen Mahlzeit, welche die gefällige Wirthin mir auftrug, alle mögliche Ehre an.
Nachdem ich geendet, glaubte die gute Frau es an der Zeit, mit ihrem Gaste eine Unterhaltung anzuknüpfen. Gemustert hatte sie mich während des Essens so lange von oben bis unten, bis ihre Mienen den Ausdruck der Gewißheit in Betreff meiner Person annahmen.
„Sie sind gewiß der Herr Kandidat, der morgen für unfern Herrn Pastor predigen soll?" so leitete sie das Gespräch ein.
„Allerdings, liebe Frau," war meine Antwort.
„Es ist doch recht traurig für den armen Herrn, daß er seine gute liebe Frau so schnell hat verlieren müssen! Und gerade zum Osterfeste! Er ist auch ganz zerschmettert. Und das arme Pfarrgretchen!"
„Wer ist das Pfarrgretchen?"
„Wer das ist? Nun die Tochter des Herrn Pastors. — Ich habe sie oft genug auf diesen Armen getragen; denn Sie müssen wissen: ich habe zehn Jahre im Pfarrhause gedient."
„Ist dies Pfarrgretchen das einzige Kind des Pastors Reinhard?"
„Ach mein Gott, nein! Es ist noch ein Sohn da. Aber das ist ja eben das Unglück."
„Was für ein Unglück?"
„Daß er so recht eigentlich schuld ist an dem Tode seiner Mutter."
„Was sagen Sie?"
„Ja, ja, daß sich die arme Mutter um ihn zu Tode gegrämt hat, das sage ich, und das weiß auch das ganze Dorf. Es paßt sich wohl eigentlich nicht, daß ich so offen zu einem Unbekannten rede; aber Sie sind ja auch ein geistlicher Herr und werden wissen, wie ich's meine; und" — die Frau fuhr sich mit der Schürze über die Augen — „ist es nicht ein großes Unglück? Ein so frommer Vater — eine so liebevolle Mutter — eine so gute und schöne Tochter, und doch so ein —- ein — wie heißt es doch im Evangelium? — so ein verlorener Sohn!"
„Ein verlorener Sohn? O bitte, erzählen Sie! Was ist's mit ihm? Ich nehme den herzlichsten Antheil an der Familie."
„Sehen Sie, Herr Kandidat, das ist anch etwas, worein ich mich nicht finden, was ich einfältige Frau nicht verstehen