Heft 
(1878) 29
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kann; aber ich meine, auch klügere Leute als ich werden's nicht verstehen. Warum haben fromme Eltern nicht selten mißrathene Kinder? Sie thun alles an ihnen, lehren, bitten, ermahnen, warnen, strafen, geben das beste Vorbild, und doch gehen die Kinder auf schlechten Wegen! Ich frage: warum? Nun, der liebe Gott, der auf jedes warum ein darum hat, wird das wohl auch wissen. Denken Sie, der Konrad er hieß von klein auf der wilde Konrad wollte schon in der Schule wie auch im Hause nicht gut thun. Mit Mühe und Noth hielt er sich, daß er nicht von der Schule weggejagt wurde. Die schlimmsten Buben waren seine liebste Gesellschaft, und wenn er in den Ferien in Herzfelde war, dann konnte er das ganze Dorf in Aufruhr bringen; niemand war vor seinen Streichen sicher. Die Mutter mochte weinen, der Vater strafen, so viel er wollte nichts half. Uebrigens ein gescheiter Junge soll er trotz alledem ge­wesen sein, wenn er nur wollte. Zum Studiren hatte er keine Lust. Er wollte Kaufmann werden. Er bekam seinen Willen. Aber in der großen Stadt ward es nur immer ärger mit ihm. Fast alle vierzehn Tage hatte er einen neuen Lehrherrn; keiner konnte es mit ihm aushalten. Nachts trieb er sich in lieder­licher Gesellschaft umher; da schmeckte ihm die Arbeit bei Tage nicht. Und dann nein, ich will nicht fluchen, das schänd­liche Spiel! Er machte Schulden über Schulden. Ja, einmal griff er sogar in seines Lehrherrn Kasse, und da war's ganz vorbei. Hätte der Herr Pastor nicht himmelhoch gebeten, seiner Familie die Schande zu ersparen, der Bursche hätte müssen ins Gefängnis; wandern. Ach, was hat der arme Vater an Kosten, an Entschädigungen zahlen müssen! Wie viele Nächte hat die arme Mutter dnrchgeweint! Welche Mühe hatte das armePfarr- gretchen, die Eltern zu trösten und zu beruhigen! Glauben Sie's, Herr, uns allen im Dorfe hat das Herz im Leibe zer­brechen mögen. Hätten wir's ändern können, wir hätten's sicher gethan. Zuletzt vergriff er sich sogar an der Eltern Gut. Eines Nachts er war wieder einmal ohne Beschäftigung und des­halb zu Hause erwacht die Frau Pastorin von einem Ge­räusche in der Wohnstube, sie zündet ein Licht an, öffnet leise die Thür, und was sieht sie? Sie sieht ihren Konrad beschäf­tigt, die Kommode zu öffnen, um die vor kurzem eingegangenen Pachtgelder zu na ja zu stehlen. Die unglückselige Mutter schreit laut auf. Der Dieb aber, wie er sie sieht, wirft das schon zusammengeraffte Geld zur Erde und fort ist er. Die arme Frau Pastorin sinkt ohnmächtig auf die Diele. So findet sie ihr Mann und ihre Tochter, die von dem Schreien munter geworden waren, und das es mögen etwa vier Wochen her sein war ihr Tod. Kränklich war sie wohl immer, aber seit jener Nacht hat sie das Bett nicht wieder ver­lassen. Gesprochen hat sie wenig, gebetet hat sie viel, die Hände waren immer auf der Brust gefaltet. Ich habe sie öfter be­sucht, sie war so lieb und hat mir so viel Gutes gethan. Mein Gott, mein Gott! Wenn ich das einmal an meinem Sohne erleben sollte!"

Mit diesem Ausrufe schloß die Wirthin ihren Bericht.

Ich war tief ergriffen. Das war in der That eine ent­setzliche Heimsuchung, welche die Familie Reinhard getroffen, und das war also das schwere Hauskreuz, von welchem der Konsistorialrath gesprochen hatte.

Hat man seitdem nichts von dem verlorenen Sohne ge­hört?" fragte ich nach einer Weile.Weiß er von dem Tode ^ seiner Mutter?"

>Ich weiß es nicht," erwiderte die Frau.Ein Fuhrmann,

l der heute früh hier durch kam, will ihn zwar in der Nachbar­schaft gesehen haben, ich glaub's aber nicht. Wie könnte er's auch wagen, den Seinen wieder unter die Augen zu treten?"

In diesem Augenblicke ward die Sprecherin abgernfen, und ich blieb allein, allein mit meinen Gedanken, die unwill­kürlich hinüberflogen nach dem Hause mit dem hohen Giebel, und meiner erst so frohen Osterstimmnng eine so trübe Fär­bung gaben. Deutlich trat das Bild des ernsten bleichen ^ Mannes, dem ich zuweilen im Hanse des Konsistorialraths be- i gegnet war, vor meine Augen; ich erinnerte mich, ihn eigentlich ^ niemals lachen, kaum hin und wieder lächeln gesehen zu haben; aber auch sein Lächeln hatte stets einen Beigeschmack von Weh-

muth und Bitterkeit. Jetzt kannte ich die Quelle seines ge­heimen Kummers. Es war das gebrochene Vaterherz, das um den mißrathenen Sohn blutete, um den Sohn, dessen Leichtsinn, dessen Frevel sogar der Mutter den Todesstoß gegeben hatte.

Wie gern hätte ich mich dieser trüben Gedanken ent- schlagen und mich ganz und gar in meine Osterpredigt vertieft; doch es war unmöglich. Die Pflicht der Höflichkeit erforderte, daß ich dem alten Herrn einen Besuch machte und ihm mein Kommen anzeigte. Mit leicht erklärlicher Befangenheit machte ich mich auf den Weg.

Ich ging über den Friedhof. Ein frisches Grab in der Nähe der Kirche bezeichnet^ die Stätte, wo das treue Mutter­herz ausruhen sollte vom heißen Lebenskämpfe. Ich öffnete die schmale Pforte in der Kirchhofsmauer und stand, nachdem ich einen kleinen Vorgarten durchschritten hatte, vor dem Pfarr- hanse. Die ganze Vorderwand desselben war mit einem Wein­spalier bezogen, an welchem die Reben bereits festgebunden waren. Die Hansthür stand offen, ich trat ein. Niemand hörte mein Kommen. Auch die Zimmerthür rechts stand offen. Ich schritt näher, um mich bemerklich zu machen; aber fast er­schrocken blieb ich ans der Schwelle stehen. In der Mitte des Zimmers stand auf einem schwarz behangenen Gestell ein offener mit Blumen reichgeschmückter Sarg, und aus den Blu­men schaute das bleiche Angesicht der Todten hervor. Nie, nie wird dieses Angesicht aus meiner Erinnerung schwinden. Ein tiefer seliger Friede lag über diesen sanften, wahrhaft mütter­lichen Zügen ausgebreitet, die jedem, der sie betrachtete, zu- znrnfen schienen: Wohl mir, ich habe überwunden! Und doch zeigte sich um die leise zusammengezogenen Lippen ein Aus­druck unendlicher Wehmuth; man hatte das Gefühl: die jetzt im Tode geschlossenen Augen mußten viel, viel geweint haben, und mir war es, als sollten jeden Augenblick neue Thränen unter den Lidern hervorquellen. Unwillkürlich gedachte ich des Wortes, das einst ein Bischof zu der frommen Monica, der Mutter Augustins, gesprochen:Ein Sohn solcher Thränen kann nicht verloren gehen!"

Ich muß diese Worte wohl nicht blos gedacht, sondern auch gesagt haben; denn plötzlich erhob sich von der Seite des Sarges, wo es von mir unbemerkt gekniet hatte, ein junges etwa 17 Jahre altes Mädchen und wandte mir ein in Thränen gebadetes Antlitz zu. Ich erkannte an der Aehnlichkeit mit der Leiche sofort, wen ich vor nur hatte. Die ganze so jung­fräulich schlanke, aber von der Gewalt des Schmerzes gebeugte Gestalt, im langen schwarzen Trauergewande mit den aufge­lösten blonden Haaren, über welche die untergehende Sonne, die eben ihre Abschiedstrahlen ins Zimmer sandte, einen gol­digen Glanz ausgoß, hatte etwas ungemein Rührendes. Mir selbst wurde es weich und warm ums Herz. Die großen dunkel­blauen Augen, die forschend auf mir ruhten, schienen eine Rechtfertigung meiner Anwesenheit zu erwarten.

Ich bitte um Verzeihung, mein Fräulein," stammelte ich endlich,ich fand niemand, der mich meldete. Mein Name ist Lindow, Kandidat Lindow, ich wollte mich Herrn Pastor Rein­hard vorstellen, den ich morgen zu vertreten habe; ich wünschte, es geschähe nicht bei einer so traurigen Veranlassung. Indessen, wenn ich störe"

Der Vater erwartet Sie sicher; bitte, kommen Sie in sein Zimmer!" Mit diesen Worten führte die junge Dame mich über den gepflasterten Flur und wollte eben eine Thür öffnen, als sie sich umwandte und leise zu mir sagte:Ich danke Ihnen für die Worte, die Sie so eben am Sarge der Mutter gesprochen, wenngleich sie wohl nicht für mich bestimmt waren. Papa, Herr Kandidat Lindow!"

Ich stand vor dem Pastor Reinhard. Wohl erkannte ich ihn wieder, aber statt der langen grauen Locken, die ich ehe­dem gesehen, hingen schneeweiße Strähnen bis auf die Schul­tern herab, die dunkelen Augen lagen tief in ihren Höhlen, und die Furchen, die der Gram in dem edlen Angesicht ge­zogen, redeten eine Sprache, die der Auslegung wahrlich nicht bedurfte.

Pastor Reinhard erhob sich von seinem Schreibtische, an welchem er gesessen hatte, reichte mir die Rechte und sagte: