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„Empfangen Sie meinen herzlichen Dank, daß Sie gekommen sind; sind Sie mir doch kein Unbekannter. Sie wissen, daß am ersten Festtage die Amtsbrüder an ihre Gemeinden gefesselt sind, und ich — ich kann nicht predigen morgen; ich muß fügte er mit bebender Stimme hinzu, „meiner Frau die Grabrede halten."
Er setzte sich, indem er mich gleichfalls zum Sitzen einlud.
„Sie werden ja gehört haben," fuhr er nach einer Pause, die ich zu unterbrechen nicht gewagt hatte, fort, „welch schreckliche Heimsuchung der Herr über mich und mein Haus verhängt hat. Meine brave Frau — o, ihr ist Wohl, ich gönne ihr die Ruhe — aber, aber —" Er vermochte nicht weiter zu sprechen.
„Regen Sie sich nicht aus, Herr Pastor! Schonen Sie Ihre Kraft, Ihre Gesundheit; Sie bedürfen derselben jetzt mehr als je. Ich weiß, was Sie erschüttert; aber hoffen Sie, hoffen Sie! Es ist unmöglich, daß Ihre Hoffnung sollte zu Schanden werden. Wer weiß, ob nicht der Mutter Tod den Sohn zu neuem Leben erweckt."
„Ja, aus dem Tode Leben, Frieden nach dem Kampf, höchste Freude nach tiefstem Leid, das ist ja die Botschaft des Osterfestes. O Herr, nur einen Hauch des Friedens, den du den Deinen ans dem Grabe mitgebracht!" rief er, indem er wie zum Gebet die Hände faltete. „Verzeihen Sie, junger Mann, daß ich Sie zum Zeugen meines Schmerzes mache.
Ich sollte gelernt haben, mich zu beherrschen. An so manchem Sterbelager, an so manchem Grabe habe ich gestanden; es ward mir nicht schwer, die Traurigen zu trösten, die Gebeugten aufzurichten. Manch bekümmertes Eltcrnherz habe ich beruhigen können, manch verirrtes Schäften: — ich habe es durch Gottes Gnade wieder herumholen dürfen zur Herde. Es war das Amt, das mich hob und trug. Jetzt, da der Doppelschlag mein eigenes Herz trifft, bin ich verzagt wie ein Kind. Nicht, daß ich zweifelte an der alles wohl machenden Gnade Gottes und an seinen heilsamen Absichten, aber ich fühle mich innerlich so leer, so dürr, so arm. Möge Ihnen eine ähnliche Erfahrung für immer erspart bleiben!"
Ich begriff, daß ich den tiefgebeugten Mann allein lassen müsse; ich übergab ihm daher das Schreiben des Konsistorial- raths Weiße, und ging, um mir selbst Sammlung und Ruhe zu erbitten, deren ich ja für morgen so sehr bedurfte.
Der Ostermorgen brach an. Hell und freundlich stieg die Sonne, die der alten Sage zufolge, an diesem Morgen mit drei Freudensprüngen die Erde begrüßt, am Himmel empor. Bald begann das Geläut. Ich sah von meinem Fenster aus die Dorfbewohner in festlichen Kleidern den Kirchhügel hinaufgehen. Vor dem dritten Geläut holte auch mich der Küster ab.
Das Eingangslied ging vorüber; die Liturgie hielt ich ohne besonders ergriffen zu werden. Das Gefühl, zum ersten Male an einem ganz fremden Orte zu sprechen, mochte das seinige dazu beitragen. Als ich aber in dem folgenden Haupt- liede mein Lieblingslied erkannte, das von allen Registern der wirklich prächtigen Orgel intonirt und von der alle Plätze füllenden Gemeinde kräftig gesungen wurde, da wich der Nebel von meinem Gemüth. Jetzt war ich in der rechten Stimmung, und aus tiefstem Herzen sang ich mit:
„Wandte leuchtender und schöner,
Ostersonne, deinen Lauf;
Denn dein Herr und mein Versöhner Stieg ans seinem Grabe auf.
Als das Haupt er sterbend beugte,
Bargst du dich in nächt'gen Flor;
Doch jetzt komm hervor und leuchte,
Denn auch er stieg längst empor.
Erde, breite dich in Frieden Unter deinem Himmel aus;
Denn dein Herr ist nicht geschieden,
Er zerbrach des Todes Haus.
Deine starken Felsen bebten,
Als er seinen Geist verhaucht;
Grüße nun die Neubelebten,
Wonnevoll in Licht getaucht!"
Jetzt begann der letzte Vers; ich bestieg die Kanzel. Indem ich nach kurzem Gebet behufs besserer Orientirung über
die Gemeinde hinblickte, bemerkte ich in dem vergitterten Pfarr- !
stuhl den Pastor Reinhard und seine Tochter. Ich bat Gott ^
im Stillen, :nir auch für diese bekümmerten Herzen ein Wort !
des Trostes zu geben. Dann schwieg die Orgel.
Der Text meiner Predigt war das kurze Wort Christi ^
an seine Jünger, Ev. Johannis Kap. 14, V. 19: „Ich lebe und ihr sollt auch leben!" — in dessen tiefere Bedeutung ich einzudringen suchte, indem ich es als ein Wort der Mahnung, der Tröstung und der Verheißung faßte, und mit dem ! Hinweis auf jenes himmlische Osterfest schloß, da uns allen, die wir des Todes und der Vergänglichkeit Schrecken im Glauben überwunden, aus dem Munde des verklärten Lebensfürsten den Ruf: „Kommt her zu mir!" entgegenschallen, und es sich ^ in voller Wahrheit erfüllen würde, das Wort: „Ich lebe und ihr sollt auch leben!" >
„Sieh, dein Herr ist auferstanden,
Daß du könntest auferstehn,
Aus der Sünde Haft und Banden
In die schönste Freiheit gehn! !
Willst du ihm dich nur ergeben,
Streift er deine Ketten ab,
Und du siehst dein altes Leben Hinter dir als leeres Grab."
Nach dem Gesänge dieses Schlußverses verließ die Gemeinde das Gotteshaus.
Meine Arbeit war gethan. Aber konnte ich abreisen, ohne dem Begräbniß der Frau Pastorin Reinhard beigewohnt und ^ ohne im Psarrhause Abschied genommen zu haben? '
Auf drei Uhr nachmittags war das Begräbniß festgesetzt, aber schon lange vor dieser Stunde war der Friedhof mit Menschen angefüllt. Hin und wieder trafen auch Wagen ein, welche die benachbarten Pastorfamilien und auswärtige Freunde ^ der Familie Reinhard herbeiführten. In das Trauerhaus wollte ich nicht gehen; ich gedachte mich auf dem Gottesacker selbst dem Trauergefolge anzuschließen, und ging, als es drei Uhr schlug und die Glocken erklangen, hinüber.
Nur mit Mühe brachen sich die Schulkinder, die unter Führung ihres Lehrers und unter dem Gesänge des Liedes „Jesus, meine Zuversicht" dem Zuge voranschritten, Bahn durch die dicht gedrängte Menge. Sechs Hausväter der Gemeinde trugen den blumengeschmückten Sarg. Demselben folgte zunächst Pastor Reinhard mit seiner Tochter, dann die Freunde des Hauses, die Geistlichen in Amtstracht. Als der Sarg über der offenen Gruft niedergelassen und der Gesang verstummt war, trat Pastor Reinhard vor, um — was er sich nicht hatte nehmen lassen wollen — der Entschlafenen selbst die Gedächtnisrede zu halten. Lautlose Stille herrschte ringsum. Aller Augen waren auf den hohen blassen Mann mit den schneeweißen Locken gerichtet, am liebevollsten aber, wenn auch nicht ohne Besorgniß, die Augen der Tochter.
Ich bin außer Stande, auch nur in kurzen Zügen die wahrhaft erschütternde Rede wiederzugeben, die der Mann hielt.
An ihrer Spitze trug sie den schönsten aller Texte, nämlich das Pauluswort: „Die Liebe hört nimmer auf." Ohne die geringste Lobeserhebung, mit einfachen, aber, man fühlte es ihm nach, tief aus dem Herzen quellenden Worten, schilderte der Gatte das Leben und Wirken seiner Frau, im Hause wie in der Gemeinde, ihre Fürsorge für die Armen und Kranken; er sprach von dem Glück, welches er in ihrem Besitze genossen, und welches nun nach Gottes unerforschlichem Rathe ihm entrissen sei; er sprach aber auch, den wunden Punkt zart berührend, von dem tiefen Weh, welches die Entschlafene mit ihm getragen und welches ihr das Scheiden so schwer gemacht; er versicherte, daß er trotz seines großen Schmerzes ihr den Eingang in die ewige Heimat wohl gönne. Aber als er dann sich an die Verstorbene selbst wandte und in bewegten Worten ihr ein letztes Lebewohl zurief, bevor die Erde sie bedeckte, als er ihr den Dank für ihre treue Liebe aussprach und mit dem Abschiedsgruße schloß: „Auf Wiedersehen in des Vaters Hause." Da blieb kein Auge trocken, lautes Schluchzen begleitete den Redner, und da sank auch seine Kraft; man sah, wie mühsam er sich aufrecht hielt, und wie sehr er die Stütze seiner Tochter und eines Amtsbruders nöthig hatte.