- 462
Aber wie nun die Träger sich anschicken, den Sarg in die gleichfalls mit Blumen geschmückte Tiefe zu versenken, da geschieht etwas ganz Unerwartetes: ein Geräusch, eine Unruhe entsteht in der Versammlung, eine Stimme ruft: „Laßt mich hindurch! Es ist nicht wahr! Es kann nicht wahr sein! Es darf nicht wahr sein!" Ich sehe, wie Pastor Reinhard, als ob jäher Schreck ihn durchzucke, bei dem Klange dieser Stimme znsammenfährt, wie die Tochter mit weitgeöffneten Augen der Richtung, woher diese Stimme tönt, folgt; ich sehe, wie sich in der Menge eine Gasse öffnet, ein junger Mensch von etwa zwanzig Jahren stürzt aus den Sarg zu: „Halt, halt!" schreit er. „Meine Mutter — sie ist nicht todt — sie darf nicht todt sein — sie muß mir vergeben — vergeben — nur einmal noch, nur diesmal noch! Was wollt Ihr?" schreit er mir und einem Nebenstehenden zu, als wir uns bemühen, ihn zu beruhigen und womöglich zu entfernen, damit die Feier keine gewaltsame Unterbrechung leide: „Was wollt Ihr? Ich bin ihr Sohn, laßt mich zu ihr, daß sie meine Reue sieht, mein Gelübde der Besserung hört und mir vergibt!" Als aber der Sarg, der schon über der Gruft schwebte, langsam hinabgelassen wird; als die ersten drei Hände voll Erde dumpf auf den Sarg niederfallen; als Pastor Reinhard mit Aufbietung seiner letzten Kräfte die Segenswünsche spricht, da verhüllt der Unglückliche sein Haupt.
„Zu spät!" murmelte er, „zu spät! Mir keinen Segen, mir den Fluch — ich habe sie getvdtet!" und ohnmächtig stürzt er zusammen.
Ich hatte keine Zeit, den Eindruck zu beobachten, den dieser plötzliche Zwischenfall auf die Anwesenden machte; ich selbst war tödtlich erschrocken, dennoch behielt ich Geistesgegenwart genug, als der Nächststehende in Gemeinschaft mit einigen Männern den Körper aufzuheben und — wohin anders als in das Pfarrhaus zu schaffen. Die Mutter hatte man eben todt hinausgetragen — trug man jetzt den todten Sohn hinein?
„Auferstehn, ja auferstehn wirst du,
Mein Staub, nach kurzer Ruh!"
sangen die Kinder am Grabe.
Der Hausarzt, der mit unter den Leidtragenden gewesen, untersuchte den Ohnmächtigen und befahl, ihn ins Bett zu bringen. Willig legte ich mit Hand an.
„Nichts Ernstliches," meinte er dann, mehr zu sich als zu den Anwesenden sprechend. „Aufregung, Nervenerschütterung, Blutandrang. Da haben wir's!" rief er aufspringend, als ein dicker Blutstrahl aus des Kranken Munde schoß. „Nur Geduld, Geduld!"
Der Kranke schlug unter der ihn betastenden Hand des Arztes die Augen auf. Starr blickte er die Anwesenden der Reihe nach an, seufzte tief auf, dann schloß er die Augen wieder. Der Arzt fühlte nochmals den Puls, horchte auf den Schlag des Herzens, nickte zwei-, dreimal wie zufrieden und sagte dann: „Er ist wirklich außer Gefahr, ich wiederhole es. Er wird lange, lange schlafen; wenn er anfwacht, gebe man ihm die Tropfen, die ich aus meiner Reiseapotheke herschicken werde."
Er sprach das alles zu mir, als gehörte ich dem Hause an.
„Die Hauptkur, alter Freund," fuhr er dann, zum Pastor- Reinhard gewendet, fort: „Die Hauptkur müssen Sie machen, und ich denke, sie wird mit Hilfe Des da oben gelingen. Auf Wiedersehen morgen!"
Er grüßte freundlich und ging aus dem Zimmer, in welchem außer dem Kranken nur wir drei, Pastor Reinhard, Gretchen und ich, zurückgeblieben waren. Alle übrigen Leidtragenden hatten sich, in richtiger Würdigung der Verhältnisse, längst zurückgezogen.
Daß ich den mir vom Aerzte angewiesenen Posten nicht verließ, versteht sich von selbst. Alle Anerbietungen sowohl Pastor Reinhards wie auch Gretchens, an meine Stelle zu treten, wies ich beharrlich zurück. Es blieb den beiden nichts übrig, als mich gewähren zu lassen. Erschöpft an Leib und Seele, wie sie waren, zogen sie sich nach dem Abendessen, das ^ still und rasch verlief, zurück, doch nicht, ohne mir das Ver
sprechen abgenommen zu haben, beim Erwachen des Kranken wie auch beim Auftreten bedenklicher Symptome sie sofort zu rufen.
So blieb ich denn allein mit meinem Pflegling, und wahrlich, er machte mir die Nachtwache nicht schwer. Wie der Doktor es vorher gesagt, schlief er ruhig fort, höchstens, daß hin und wieder ein tiefer Seufzer die Stille unterbrach, oder auch der leise Ruf: „Mutter!" über-die Lippen drang.
Ich vernahm, wie von Zeit zu Zeit leise Schritte sich der Thür näherten und nach einer Weile sich wieder entfernten. Die Sorge um den Sohn ließ den Vater doch nicht ruhig schlafen. Gegen Mitternacht trat Pastor Reinhard ins Zimmer, um mich abzulösen. Es wäre nicht nöthig gewesen. Schlafen konnte ich doch nicht, und so setzte ich mich nur in die Ecke
des Sophas; war ich so doch auch bei einem nnvermutheten
Ereigniß gleich bei der Hand.
Lange, lange stand Pastor Reinhard an dem Lager des Sohnes und schallte unverwandt auf den Schlummernden nieder, als wollte er sich überzeugen, ob es wirklich sein Konrad sei,
der vor ihm lag, — der alte wilde — oder ein reuiger nm-
gewandelter. Manche bittere Thräne mag da das Vaterange genetzt haben!
Die Thurmuhr schlug eins — zwei — drei. Der Kranke schlief noch immer, aber er wurde, wie es schien, unruhiger, als sollte der Schlaf bald zu Ende gehen. Um vier Uhr etwa, — schon begannen die Schatten der Nacht zu weichen und der matte Schimmer des neuen Tages fiel in das Zimmer — kam auch Gretchen. Man sah's ihr wohl an: sie hatte wenig geschlafen.
Fast in demselben Augenblick erwachte Konrad. Er richtete sich auf, blickte rings um sich her, als müßte er sich besinnen, wo er wäre, wandte dann die Augen bald auf den Vater, bald auf die Schwester, — dann schien es, als suche er nach jemandem. Endlich stürzte ein Strom von Thränen über seine Wangen, er streckte die Arme ans.
„Mein Vater!" rief er mit herzzerreißender Stimme, „vergib, vergib, was ich gesündigt; — zerknirscht, zerschlagen kehre ich zurück zu Dir. — Ich bin ja doch Dein Kind — verstoß mich nicht, wenngleich ich's tausendfach verdient habe! Vergib, wie Gott mir vergibt, und wie, ich weiß es, die selige Mutter, der ich das Herz brach, mir vergeben hat! Du sollst, ich schwöre es Dir bei ihrem Andenken, Du sollst fortan nur Freude an mir erleben — alles Herzeleid will ich Dir versüßen! — Gretchen, hilf Du mir bitten!"
Nur in abgerissenen Lauten hatten sich diese Worte von den Lippen des Unglücklichen losgernngen. Gretchen war längst an dem Bette niedergekniet.
„Ich wußte es," flüsterte sie, „der Sohn solcher Thränen konnte nicht verloren gehen."
Der Vater aber stand, mit feuchten Augen, die Hände über der Brust gefaltet, in der Mitte des Zimmers. Nicht müde wurde er, den reuigen Sohn zu beobachten. Dann richtete sein Blick sich nach oben, er sprach: „Barmherziger Gott! Darf ich's denn glauben? Darf ich dir danken für diese seligste Osterfreude, die du mir schenkest? — Und Du, Verklärte droben, ist dies das Vermächtniß, das Du mir hinterlassen? — Dieser mein Sohn war verloren und ist wieder gesunden, er war todt und ist wieder lebendig geworden, er ist anferstanden zu einem neuen Leben!"
Und nun kniete auch er an dem Bette nieder.
Ich aber verließ still diese heilige Stätte des Friedens und der Versöhnung und kehrte in den Gasthof zurück. Hier schrieb ich schnell einige Zeilen des Abschieds, fügte auch hinzu, daß ich jeder Zeit zur Hilfe und Vertretung bereit sein würde, und schritt dann hinaus, dem aufdämmernden Morgen entgegen.
Ein Jahr war vergangen. Wieder war der Frühling gekommen und mit dem Frühling das Osterfest, und wieder machte ich mich fertig, in Herzselde zu predigen, aber diesmal am