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zweiten Festtage. Der Weg dorthin war mir im Laufe des Jahres recht vertraut geworden. Oft, aber nicht zu oft für meine Wünsche, hatte ich das mir so liebgewordene Pfarrhaus betreten. — Trotz der Freude, die ihm die Rückkehr des verloren geglaubten Sohnes bereitete, konnte Pastor Reinhard doch nicht recht wieder zu Kräften kommen, und bedurfte deshalb häufig der Vertretung, die ich gern übernahm.
Konrad hatte Wort gehalten; er war in der That ein ganz neuer Mensch geworden, worüber sich in Herzfelde niemand mehr verwunderte, als die brave Wirthin. Nach feiner körperlichen und geistigen Genesung reifte er nach Amsterdam, wo er in ein bedeutendes Handelshaus eintrat. Seine natürlichen Gaben, die er sorgfältig auszubilden bestrebt war, sein unermüdlicher Fleiß, fein ernster Charakter hatten ihm in kurzem das Wohlwollen seines Prinzipals erworben, wie dies jeweilige Briefe desselben an den Vater bezeugten.
Eigentlich krank war Pastor Reinhard nicht; aber er selbst meinte, mit seiner Frau sei die Hälfte seines Lebens und seiner Kräfte zu Grabe getragen worden. Wenn auch das Alter ihn nicht allzuhart drückte — er zählte sechszig und etliche Jahre
— so hatte er doch, wenn ich so sagen soll, die Freudigkeit des Wirkens verloren; ja er empfand eine so große Sehnsucht nach Ruhe und völliger Zurückgezogenheit, daß er kurz entschlossen zum Beginn des neuen Jahres beim Konsistorium die Bitte um seine Versetzung in den Ruhestand eingereicht hatte
— „im Interesse feiner Gemeinde, der er selbst einen rüstigeren Seelsorger wünschen müsse" — welche Bitte ihm auch unter lebhafter Anerkennung seiner treuen gesegneten Amtsführung bewilligt wurde. Den Sommer über wollte er noch im Amte bleiben, beim Eintritt der rauheren Jahreszeit aber in eine kleine stille Stadt übersiedeln. Was ihm dabei das Herz schwer machte, das war der nothwendige Abschied von dem theuren Grabe, welches die Liebe der Gemeinde längst mit einem schönen Marmorkreuz geziert hatte. Dasselbe trug außer dem Namen, dem Ge- burts- und Todestag der Verstorbenen die Inschrift: „Die Liebe höret nimmer auf."
Die Stunden, die ich im Pfarrhanse zu Herzfelde verlebte, waren die Lichtpunkte in meinem Leben. Fühlte ich doch nur zu gut, was mich mit unwiderstehlicher Gewalt dorthin zog: es war die Liebe zu dem schönen treuen Pfarrgretchen, das, nachdem die ersten Stürme des Schmerzes vorübergeranscht waren, und der Balsam der Zeit anfing die Wunden zu heilen, lieblich wie eine Rose aufblühte, ein Bild echter zarter Jungfräulichkeit. Wenn sie mir mit so anmuthiger Herzlichkeit entgegenkam, wenn ihre Augen zuweilen wie sinnend und fragend auf mir ruhten, wenn sie beim Abschied immer so verschämt er- röthete und mir ein „auf Wiedersehn!" zuflüsterte, ach, dann wollte sich mir die Gewißheit aufdrängen, daß auch sie mich in ihr Herz geschlossen habe; aber so oft mein Blick auf die schwarze Trauerkleidung, die sie trug, fiel, hielt mich eine leicht:, erklärliche Scheu zurück, mich auszusprechen und eine Entscheidung
— ein Ja oder Nein — herbeizuführen.
Inzwischen aber hatte ich Reinhards meinen Eltern zugeführt, und diese fanden sowohl an dem würdigen Vater wie an seiner schönen und guten Tochter herzliches Wohlgefallen, so daß ich nicht zweifeln durfte, meine Wahl würde auch den Segen meiner Eltern für sich haben. Doch auch vor ihnen hielt ich mein Herzensgeheimniß bewahrt, d. h. ich glaubte es bewahrt zu haben.
Da war es denn der alte Konsistorialrath Weiße, der dem Hangen und Bangen ein rasches Ende machte.
Am Abend vor Ostern — ich war mit meiner Predigt längst fertig — trat er ganz unverhofft in unser Wohnzimmer.
„Sie wissen doch," fragte er, nachdem einige Worte gewechselt waren, „daß Pastor Reinhard Ende dieses Sommers emeritirt wird?"
„Ich weiß es," erwiderte ich.
„Hm! hm! Schade, daß die Aermsten dann Herzfelde verlassen müssen. Sie werden's ungern thun; die Sache läßt sich aber nicht ändern."
Er machte eine Pause, dann fixirte er mich.
„Herr Kandidat," fragte er dann in etwas feierlichem Tone, „möchten Sie Pfarrer in Herzfelde werden, d. h. wenn das Konsistorium Sie designirtc und die Gemeinde keinen Widerspruch erhöbe?"
„Herr Konsistorialrath," fuhr ich auf, „darf ich die Frage ernsthaft nehmen?"
„Unzweifelhaft! Sie dürfen dieselbe sogar als eine amtliche betrachten. — Also Antwort, junger Herr! — Ist der Entschluß schwer zu fassen? Hätt's nicht geglaubt. Was würden Sie sagen, wenn ich die Designation schon in der Tasche hätte?"
Bei diesen Worten zog er wirklich ein großes Schreiben aus der Tasche, faltete es auseinander und hielt es mir dicht vors Gesicht, indem seine Augen hinter der goldrandigen Brille ganz eigenthümlich blitzten.
„Nun, schlagen Sie ein?"
Er reichte mir die Hand hin.
Noch völlig überrascht und keines Wortes mächtig schlug ich ein.
„Bravo!" sagte er. „Dann darf ich wohl auch über den andern Punkt beruhigt sein. Nicht wahr?"
„Was meinen Sie," stammelte ich.
„Nun, ich meine, daß dann der alte Reinhard nicht in die weite Welt zu wandern brauchte, — und sein Töchterchen noch weit weniger."
Ich fühlte, wie eine heiße Blutwelle mir ins Gesicht stieg.
„Aber, Herr Konsistorialrath —"
„Ah so! Haben gedacht, ein alter Mann merkt nichts.
Da ist das Schreiben. Nun machen Sie auch diese Ostern Ihre Sache brav — verstanden? Guten Abend, Herr Lindow, guten Abend, Frau Lindow! Gratülire bestens. — Ei was! Ich merke, er hat noch nichts gestanden? Der Bösewicht! Nehmen Sie ihn dafür tüchtig ins Gebet. — Gott befohlen! Gott befohlen!"
Fort war er.
Ja, nun freilich gestand ich; gestand alles, was die guten Eltern lange geahnt, noch mehr: gehofft und gewünscht hatten.
Wie sie ihren Sohn segneten. Wie sie ihn umarmten und küßten, und sich freuten, daß sie bald auch eine Tochter an ihr Herz drücken sollten. Ach, sie hatten in des Mädchens Seele wohl besser zu lesen verstanden als ich.
Als die Wellen der Erregtheit sich gelegt, wurde Familienrath gehalten und beschlossen, ich sollte erst nach der Predigt meine Designation für Herzfelde erwähnen und in geeigneter Weise meine Bewerbung bei Vater und Tochter anbringen. Nachmittags wollten die Eltern gleichfalls nach Herzfelde kommen, und das weitere — hieß es — würde sich wohl finden.
Und so geschaht. Ich predigte, blieb wie gewöhnlich zu Tische im Pfarrhanse; dann zog sich Pastor Reinhard in sein Zimmer zurück, um ein wenig zu ruhen, und ich war mit der Geliebten allein. Sie hatte heute zum ersten Male seit dem Tode der Mutter ein Helles Kleid angelegt, eine blaue Schleife ^ schmückte ihre blonden Haare, sie erschien mir lieblicher als je.
Auf dem Spaziergange, den ich vor Tische allein durch den j Garten unternommen, hatte ich mir alles höchst weise und verständig zurecht gelegt, was ich ihr sagen, was ich sie fragen, wie ich sie überraschen wollte. Jetzt hatte ich alles rein vergessen, und da Gretchen heute auch besonders still und nachdenklich war, so wollte ein Gespräch erst gar nicht recht in Gang kommen.
Es wurde Konrads gedacht. Er hatte zum Fest geschrieben, daß er demnächst im Aufträge seines Prinzipals eine Reise nach Batavia antreten werde, und daß er hoffe, nach der Rückkehr das Vaterhaus besuchen zu können.
„Wer weiß," meinte Gleichen am Schlüsse ihrer Erzählung,
„ob er uns noch hier antreffen wird?"