Hartmut Steinecke (Hrsg.): Romanpoetik in Deutschland. Von Hegel bis Fontane. — Tübingen: Gunter Narr Verlag 1984. 283 S. (Deutsche Textbibliothek, Bd. 3) (Rez. Michael Masanetz, Leipzig]
Der Herausgeber legt mit diesem Band ein weiteres Resultat seiner jahrzehntelangen Bemühungen um Gattungs- und Gattungstheoriegesdiichte des Romans im 19. Jh. vor. „Romanpoetik in Deutschland" stellt die wesentlich erweiterte, um einen analytischen und einen kommentierenden Teil bereicherte Fortführung seiner 1970 erschienenen Sammlung „Theorie und Technik des Romans im 19. Jh." dar. Aus einem beachtlichen Korpus von 900 Texten wählte Steinecke 65 Zeugnisse von 52 Autoren aus, die ihm „für die Gesamtentwicklung besonders wichtig, . .., die Diskussion anregend oder für den Autor, eine Epoche oder Tendenz charakteristisch zu sein schienen." (S. 9) Hervorzuheben ist dabei zum einen die in der Sammlung realisierte Textsortenvielfalt, zum anderen das breite Spektrum der Beiträger. Auszüge aus Ästhetiken, Kritiken, Feuilletons, Romanvorreden und erstmals auch Briefen (Stifer, Heyse, Fontane, Engels) erfassen die differenziertesten Kommunikationssituationen und -inter- essen, die zum „Sprechen über den Roman" Anlaß gaben. Sie ermöglichen so eine polyperspektivische Sicht auf die Problematik. Die wichtigsten Prosaisten (Goethe, Heine, Immermann, Keller, Ludwig, Fontane), Kunstphilosophen (Hegel, Schleiermacher, Vischer, Rosenkranz, Schopenhauer, Dilthey) und Kritiker des Zeitraums (Menzel, Rüge, Prutz, Schmidt, Gottschall, Gebrüder Hart, Mehring, Bahr) sind ebenso vertreten, wie weniger bekannte Autoren (Ludwig Meyer, O. L. B. Wolff, Erwin Schlieben, Irma von Troll-Borostyani). Dabei stellt Leopold von Sacher-Masochs Vorwort zum Roman „Die Ideale unserer Zeit" eine echte Entdeckung dar. In seiner entschiedenen Gesellschaftskritik („Ein eckelerregender (!) Byzantismus macht sich, wie in unserem politischen Leben, auch in unserer Literatur breit.") und in seinen poetologischen Postulaten („Ich habe den Versuch gemacht, deutsches Leben und deutsche Verhältnisse einmal weder verzerrt und verhäfjlicht, noch verschönert oder geschmeichelt darzustellen, sondern einfach wahr,..."; 1875; S. 191) weist er tiefgehende Gemeinsamkeiten mit Fontane auf, die dazu anregen sollten, sich wieder einmal genauer mit dem Werk Sacher-Masochs zu beschäftigen. Den chronologisch angeordneten Texten ist ein 32seitigcr Essay vorangestellt, der „Die Entwicklungen der deutschen Romanpoetik von Hegel bis Fontane" skizziert und sich durch Präzision und Kenntnisreichtum auszeichnet. Jedem einzelnen Text sind kurze Erläuterungen zum jeweiligen Kontext und biographischen Informationen zum Autor beigegeben, die dem weniger kundigen Benutzer des Bandes die Orientierung erleichtern. Daß in den Literaturhinweisen weitere wichtige Arbeiten der ausgewählten Autoren bibliographisch erfaßt sind (insgesamt über 200 Quellen), erhöht den Gebrauchswert des Buches beträchtlich.
Die vorliegende Sammlung dokumentiert den das ganze Jahrhundert anhaltenden vielstimmigen Diskurs über den Roman auf anschauliche Weise. Bei der Lektüre entsteht ein komplexes Bild dieses Diskurses, dessen Hauptzug
464