Heft 
(1878) 42
Seite
662
Einzelbild herunterladen

662

strengen Bestrafung der geringsten Vergehen. Betrübte sie auch die bald zu Tage tretende Erscheinung, daß der Knabe sie' viel mehr fürchtete als liebte, so beruhigte sie sich doch mit dem Gedanken, daß letzteres mit den Jahren von selbst kommen müsse; denn geschah nicht alles, was sie that, nur zum Besten ihres Kindes? Für wen sorgte und mühte sie sich denn Tag und Nacht, als für ihn?

Es hätte mit der Gemüthsbildung des an und für sich schon verschlossenen Charakters des Knaben traurig ausgesehen, wenn nicht die alte Katherine und die kleine Louise gewesen wären. Katherine, mit einem weichen gütigen Herzen und natürlichen Verstand begabt, verstand es, trotz ihrer vollständig vernachlässigten Schulbildung trefflich, sich in die Stimmungen einer Kinderseele zu versetzen. Sie war die Vertraute des mnthigen tüchtigen Ernst, sowie ihrer lieblichen, sanften, kleinen Louise; unter ihren Augen genossen die beiden nur durch drei Jahre von einander getrennten Kinder die heitersten glücklichsten Stunden.

Da Frau Römer, um den Standesunterschied aufrecht zu erhalten, der kleinen Louise den Eintritt in die Wohnzimmer streng untersagt hatte, so trafen die Kinder nur im Garten oder hinter dem großen Kachelofen in Katherinens Stube zu­sammen. Ueberraschte Frau Römer sie bei diesem Stelldichein, so stoben sie auseinander wie aufgescheuchte Tauben, um sich desto inniger aneinander zu schmiegen, wenn die gefürchtete Frau Mutter sich wieder entfernt hatte.

Was vielleicht bei einem ruhigen Gehenlassen der Dinge nicht eingetreten wäre, vollzog sich so auf ganz natürlichem Wege Ernst hing mit einer Leidenschaft an seiner einzigen Spielgefährtin, welche Frau Römer, wenn sie eine Ahnung von ihr gehabt, wahrhaft erschreckt hätte. Davon war sie freilich sehr weit entfernt. In ihren Augen galt derselbe für eine verschlossene kalte Natur. Nur einmal war sie durch feine aufbrausende Heftigkeit in augenblickliche Bestürzung versetzt worden. Sie hatte die Anfrage des Hauslehrers, ob er auch Louisen Unterricht ertheilen dürfe, mit einem schroffenNein" beantwortet; Ernst, der zugegen gewesen, war aufgesprungen und hatte mit glühenden Worten erklärt, daß er mit Louisen zusammen unterrichtet sein wolle.

Es war darüber zu einer heftigen Scene zwischen der Mutter und dem Knaben gekommen. Da Ernst es indessen später anscheinend ruhig mit ansah, daß Louise mit der Schul­tasche zum Dorfschullehrer ging, hatte sie sich bald wieder be­ruhigt und schließlich über ihre Besorgniß gelächelt. Ernst, der schwächlich war, sollte nach ärztlichem Ausspruch geistig nicht allzu sehr angestrengt werden. Infolgedessen hielt es Frau Römer für rathsam, den aufgeweckten Knaben bis zum fünf­zehnten Lebensjahre zu Hause zu behalten. Als Ernst später aufs Gymnasium kam, änderten Zeit und Entfernung zwar mancherlei an dem innigen Verhältniß, das früher zwischen den Kindern bestanden hatte, die Neigung, die sie verband, blieb aber dieselbe. Begannen die Ferien, so schlug Ernsts Herz in Erwartung des Wiedersehens mit Katherine und Louise freudiger, und kehrte er in die Stadt zurück, so empfand er die ganze Seligkeit, die für einen aufstrebenden Jüngling in dem Ge­fühle liegt, ein schwaches, sanftes, weibliches Wesen"aus der Welt zu wissen, das ihm stets den leisesten Wunsch erfüllt, ja, wenn es verlangt würde, für ihn durchs Feuer ginge. Was sie anbetraf, so zählte sie in ihrer vollständigen Abgeschiedenheit angstvoll die Wochen, die von einem Besuche bis zum andern verfließen mußten.

Louise war dann mit vierzehn Jahren eingesegnet und hatte ihrer Mutter zwei Jahre lang in Haus- und Hoswirth- schaft helfen müssen, bis Katherine selbst eingestand, daß ihre Luise alles womöglich besser verstände wie sie. Sie entschloß sich daher, der Vorstellung ihrer einzigen Schwester, die an einen Feldwebel in Küstrin verheirathet war, Gehör zu schenken und Louise zu ihr zu schicken, damit sie sich in der Stadt noch in den feineren Handarbeiten vervollkommnen könne. Der Feld­webel war bald darauf in die Stadt versetzt worden, in der Ernst das Gymnasium besuchte, und die Freude der alten Jugend­gespielen war nicht gering gewesen, als sie sich eines Tages

auf der Straße begegneten. Die kleine Stube der Frau i Feldwebel hatte seitdem manches Mal heitere, lachende, kindlich­frohe Menschen gesehen. ^

Es war dann der Tag gekommen, an dem Ernst seine Sachen packte, um nach glänzend bestandenem Abiturienten- !

examen in Berlin seiner Militärpflicht zu genügen. Daß er >

gerade Berlin gewählt hatte, war auf Wunsch seiner Mutter geschehen, die, da Ernst nicht die Landwirthschaft, sondern das Forstfach zu seinem Lebensbernf wählte, ihm dadurch zu nützen hoffte, daß sie ihn früh der Protektion ihres Bruders, des Oberforstmeisters in Berlin, versicherte.

Als Ernst seine Sachen in den Koffer packte, kam es ihm so recht zum Bewußtsein, daß er wohl mehr oder weniger un­gern von all den vielen Freunden schied, die er sich hier er­worben hatte, daß aber der Abschied von Louise doch der ein­zige sei, der sein Herz unruhiger schlagen mache. Er riß die Mütze vom Riegel, stieg eilig die Treppen hinunter und nahm sich vor, in der nächsten Buchhandlung Schillers Gedichte, ihr Lieblingsbuch, zu kaufen und ihr damit bei seinem Abschieds­besuch eine Freude zu bereiten.

Die Dämmerung brach eben herein. Kaum, hatte er die Straße betreten, als er der begegnete, an die er in der letzten Stunde so viel gedacht hatte.

Sie kauften nun das Buch zusammen und machten ge- ! meinschaftlich die übrigen Gänge, die Louise zu besorgen hatte. - Als sie dann an Ernsts Wohnung angelangt waren, bat er sie freundlich, mit nach oben zu kommen, da er ihr gern noch einige Worte in das Buch schreiben wolle.

Anfangs widerstrebte sie, als er ihr aber auseinander­setzte, daß feine Zeit bis zum Abgang des Zugs durch Packen und so weiter so in Anspruch genommen sei, daß er ihr das Buch nicht inehr bringen könne, folgte sie ihm die Treppen hinauf. Sie war dann durch die Worte, die er ihr in das ' Buch schrieb, hoch erfreut worden sie hatten sich seit den '

Jahren der Kindheit zum ersten Male wieder einen Kuß ge- ^

geben, und aus dem Augenblicke, den sie zusammen verbringeil wollten, war Stunde um Stunde geworden.

Ernst war dann nach Berlin gereist. Der Onkel, der durch das Vertrauen seiner stolzen Schwester nicht wenig er­freut wurde, hatte den schönen liebenswürdigen Neffen mit großer ? Freundlichkeit willkommen geheißen, und aus dieser war eine warme Zuneigung geworden, als er in dem musikalischen Talent des jungen Mannes einen Faktor entdeckte, der seinen ästheti­schen Soiröes zur Zierde gereichen mußte. Frischen Geistes und von ernstem Wissensdrang beseelt, hatte Ernst Römer es bald verstanden, sich unter den anregenden, von allen Seiten aus ihn einstürmenden geistigen Genüssen diejenigen zu wählen, die seiner weiteren Ausbildung wirklich zu Gute kamen, und die innige Freundschaft, die ihn bald mit dem jungen Julius Sternberg, dem Sohn eines Landpfarrers verband, trug dazu bei, ihm die Zeit in Berlin zu einer sehr glücklichen zu machen.

Wohl schweiften seine Gedanken oft hinüber zur Jngend- geliebten, und er machte sich anfangs die bittersten Vorwürfe, sein in der Abschiedsstunde gegebenes Versprechen, ihr zu schreiben, unerfüllt gelassen zu haben, aber er hatte nie im Briefwechsel mit ihr gestanden und war von Hause aus ein j so gründlicher Feind von allem Briefschrieben, daß er es von Tag zu Tag hinausschob, bis Louisens Bild in seiner Erinnerung mehr und mehr erblaßte.

Frau Römer erwähnte ihrer nie in ihren Briefen, und Katherine war des Schreibens unkundig; so traf es denn Ernst wie ein Blitzstrahl aus heiterer Lust, als er eines Nachmittags einen Brief von dem Falkenhagener Dorsschullehrer erhielt, in welchem er ihn in Katherinens Aufträge dringend ersuchte, nach F. zu reisen, um zu erforschen, was aus Louise geworden sei.

Louise, so berichtete der alte Mann nach Katherinens Diktat, habe ihrer Mutter vor ungefähr fünf Monaten angekündigt, daß sie die Stelle einer Näherin bei einer Herrschaft an­genommen habe, die im Begriff sei, eine größere Reise an­zutreten, daß sie sich also nicht beunruhigen möge, wenn lange keine Nachrichten von ihr einträfen. Frau Katherine sei auch