Heft 
(1987) 43
Seite
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sonnenheit und Zurückhaltung war Wolfsohn gezwungen, um sich nicht der Möglichkeit zu berauben, als deutscher Staatsbürger seßhaft werden und seine seit zehn Jahren anverlobte Braut heiraten zu können. Er betonte seine Zu­rückhaltung auch öffentlich, als er im Oktober 1848 seinen Freund, den auch Fontane bekannten einstigen Leipziger Jurastudenten und derzeitigen Alten­burger Minister Christian Albert Cruciger in der ZeitschriftEuropa" aus­führlich vorstellte, einer Erklärung für den Übergang dieses Republikaners zu denUltras" aber mit den Worten auswich:Doch das sind Dinge, auf die ich nicht eingehe; ich habe einmal erklärt, daß ich von der politischen Debatte mich fernhalte." 16 Dieses Fernhalten von der politischen Debatte, von der Politik überhaupt, hinderte Wolfsohn allerdings nicht, nur wenig später einem Ultraradikalen, dem steckbrieflich gesuchten Landsmann Michail Bakunin, in seiner Wohnung Unterschlupf zu gewähren.

Wenden wir uns nun dem anderen gleichzeitigen Aufenthalt Fontanes und Wolfsohns in Berlin zu. Ein reichliches Dreivierteljahr nach seinem Verlassen der preußischen Hauptstadt im März 1848 besuchte Wolfsohn sie in der zwei­ten Januarhälfte 1849 erneut für zehn bis vierzehn Tage. Anlaß war die An­wesenheit Sophie Melgunows in Berlin, mit deren Mann Nikolaj er in enger Beziehung stand. Nikolaj Melgunow hielt Wolfsohns Verbindung zur russi­schen, slawophilen Tendenzen zuneigenden ZeitschriftMoskwitjanin" und zu deren Herausgeber M.-P. Pogodin aufrecht; er leitete auch Wolfsohns Korres­pondenzen für diese Zeitschrift weiter. Für sie verfaßte er im Februar 1849 einen Artikel, der die Eindrücke wiedergab, die er bei seinem Besuch des seit November 1848 von Wrangel besetzten Berlin empfangen hatte. Er schrieb unter anderm:Der Sturm, der im vergangenen Frühjahr über Berlin hinweg­fegte, und das preußische Königtum zum Wanken brachte, drohte im Herbst mit noch größerer Kraft wieder auszubrechen. Der Belagerungszustand unter­brach diesen Sturm und die Physiognomie der Stadt änderte sich augenblick­lich; in diesem Fall war der März gezwungen, dem November zu weichen. Der Belagerungszustand macht sich wenig bemerkbar. Die Einreisenden wer­den von einigen Konstablern befragt, es handelt sich um 10 bis 12 Soldaten: das ist alles. Ist man in der Stadt, verschwinden die Anzeichen eines Aus­nahmezustandes; Berlin hat seinen üblichen Anblick bewahrt. Stille und Sau­berkeit, aber die Stille ist belebt, die Sauberkeit einnehmend. In den höheren Gesellschaftskreisen herrschte bis spät in den Herbst Mutlosigkeit und Lange­weile, man versagte sich alle Vergnügungen, alle Bedürfnisse des Geschmacks und der Eleganz. Viele begüterte und bekannte Familien verließen Berlin; die zurückgebliebenen verschlossen die Türen vor all und jedem. Die Arbeiter­klasse war ohne Arbeit . .. jetzt geht sie wieder ihren üblichen Gewerben und friedlichen Vergnügungen nach. Die Liebe zum Leben erwacht endlich . . . Theater und Vergnügungshäuser sind gepfropft voll. Der Reichtum zeigt sich wieder, die hauptstädtische Eleganz gibt Lebenszeichen von sich. In den Läden sind die verschiedensten Waren mit Geschmack ausgelegt ... wenn die Zahl der Käufer auch nicht groß ist, so geizen die Ladeninhaber zumindest nicht mit der Lockspeise. In den Fenstern der Kupferstichläden ist die ganze Ge­schichte der Gegenwart in Porträts abgebildet einer neben dem andern: Feind und Freund, Richter und Angeklagter, die linke wie die rechte Seite . . . In Berlin herrscht jetzt wieder eine gewisse Umsicht, eine Freundlichkeit, die

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