in den Augen des. flüchtigen Beobachters Berlin seinen üblichen anziehenden Charakter verleiht. Doch diesem angenehmen Äußeren stehen dunkle Seiten gegenüber. An den Häusern schwanden alle Spuren der Zerstörung; aber schaut man in die Häuser, so sieht man viele Spuren: verwaiste, in Elend geratene, von Leidenschaften und Verfolgungen vernichtete Familien; Männer und Frauen, die ihr Vermögen, ihre Ehre, ihren Verstand verloren haben — mit einem Wort, man sieht alles, was man menschliches Unglück nennt, mit Tränen und Verzweiflung, Opfern und Schande, alles das haben die Ereignisse der Gegenwart, die so zerstörerisch über Berlin hinweggezogen sind, hinterlassen und es vergeht kein Tag, wo dies nicht auf die eine oder andere Weise zu Tage tritt."
Bei der darauffolgenden Beschreibung der wohltätigen .Diakonie-Einrichtung .Bethanien' (auf dem Köpenicker Felde), dieses beispielhaften Hospitals, das sich unter der Schirmherrschaft des Fräulein von Rantzau befindet", stellt Wolfsohn fest: „Man kann wohl behaupten, daß sich im übrigen Europa eine solche Einrichtung nicht finden läßt. Alles, was Wissenschaft und Technik, der Geist der Liebe und des Mitgefühls zum Wohl der Einrichtung tun konnten, ist mit äußerster Sorgfalt und möglichster Vollständigkeit ausgeführt. Angestellte, Ärzte, Apotheker, Schwestern sind gewissenhaft ausgewählt, mit Sachkenntnis und Umsicht. Der Apotheker Theodor Fontane unterrichtet einige Frauen der Einrichtung in Chemie und Pharmazie.. Er ist ein junger Mann mit großen Talenten und überdies ein ausgezeichneter Lyriker." 17 Die Ausführlichkeit dieses Zitats ist nicht nur in dem Interesse begründet, das eine Beschreibung des seit drei Monaten besetzten Berlins in einer russischen Zeitschrift beanspruchen darf, nicht nur in dem Wolfsohn charakterisierenden Mitleidem mit den Armen und durch die Ereignisse in ihrem Alltagsablauf Gestörten, sondern nicht zuletzt in der -hierin enthaltenen ersten Erwähnung sowohl des Apothekers als auch des Poeten Theodor Fontane in der russischen Presse. Überdies ist dieser „Brief des Leipziger Korrespondenten vom 14. Februar" der einzige Beweis für Wolfsohns Begegnung mit Fontane Ende Januar/Anfang Februar 1849 in Bethanien. Der zitierten Beschreibung der „Diakonie-Einrichtung" liegen zweifellos Auskünfte aus dem Munde Fontanes zugrunde. Wolfsohns Berliner Aufenthalt selbst und seine Dauer belegt auch sein die „Korrespondenz" begleitendes Schreibern an M. P; Pogodin vom 14. Februar 1849, in dem es heißt: „Ungefähr vor zwei Wochen fuhr ich nach Berlin, nachdem ich von der Ankunft Sophie Karlowna Melgunows erfahren hatte. Dieser Tage kehrte ich zurück und fand einen Brief von Nikolaj Aleksandro- witsch (Melgunow) vor, der mich unterrichtete, daß Sie mit meinem Vorschlag [Korrespondenzen zu schicken] einverstanden sind." 18
Auch in diesem Winter, den Fontane in Bethanien verlebte, war Sophie Mclgu- now wieder ein Ziel gemeinsamer Besuche der Freunde, an denen auch Lepel teilnahm. Im Februar 1849 schrieb dieser an Fontane: „Grüße die schöne Russin von mir. Ich habe schon eine Mandel Terzinen an sie gerichtet." Zwei Monate später, Anfang April, stand Lepel auf der Suche nach Fontane vor der — allerdings verschlossenen — Tür Sophie Melgunows.. 19
In den kommenden Jahren war Wolfsohn noch öfter in Berlin und traf sich dort mit Fontane, doch sind diese Begegnungen nicht so bedeutsam wie die hier behandelten von 1848/49. Zu dieser Zeit war der Kontakt der Freunde
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