Heft 
(1987) 43
Seite
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Trotzdem ist infolge näherer Bekanntschaft mit Fontane und seinen Hand­schriften die gleiche Frage wie odysseische Weisheit herangereift: Was soll das bedeuten? Immer wieder haben die Praktiker festgestellt, daß es keinen rechten Sinn hat, und die Theoretiker wußten nicht so recht, wie die Aufgabe überhaupt anzupacken, geschweige denn zu lösen sei. Dieser Beitrag beruht seinerseits auf eingehendem Studium Fontanescher Erzählkunst und der Ar­beitshandschrift des Stechlin, stellt eine Theorie darüber auf und unterbreitet praktische Vorschläge für die Faksimileherausgabe.

Überlegen wir zunächst, weshalb historisch-kritische Ausgaben notwendig sein können, und ob Fontanes Werk ähnliche Anlässe bietet. Ehe viel Zeit und Geld investiert werden, sollten erst einmal die Gewinnchancen genau berechnet werden.

Das allgemeine Wunschziel, das Zauberwort einer jeden historisch-kritischen Ausgabe heißtder gesicherte Text" was natürlich voraussetzt, daß die vorhandenen Ausgaben irgendwieunsicher" sind. Die gebräuchlichen philo­logischen Begriffe, wieFassung" undVariante", wurden ursprünglich zur Herausgabe von Schriften entwickelt, deren Autorenschaft und Echtheit tat­sächlich unsicher sind, die auf Umwegen und nur handschriftlich, aber mehr­fach und mit Abweichungen untereinander überliefert sind. Für dieneuere" Literatur, deren Autoren den Druck beaufsichtigen konnten, werden nun die gleichen Begriffe verwendet, obwohl andere Bedingungen vorherrschen. Daß es dennoch Fälle gibt, wo Schluderarbeit Haarsträubendes verbrochen hat, wo voreingenommene Nachlaßverwalter den Sinn der Texte nachhaltig verdrehen konnten, oder wo des Dichters später Sinneswandel den Philologen schlaflose Nächte bereitet hat, ist hinlänglich bekannt. Aber bei Fontane ist nur ein einziger Fall eingetreten, wo die Philologie nachträglich einschreiten und Ver­schlimmbesserungen wieder beseitigen mußte: bei Ettlingers posthumer Ver­öffentlichung von Mathilde Möhring. Wo aber liegt der aktuelle Anlaß?

Wie könnten sich denn Unsicherheiten in Fontanes Werk eingeschlichen haben? Der für seine Produktion charakteristische Vorgang scheint sie auszuschließen, mindestens gering zu halten. Zunächst entstanden über Jahre sogenannte Ar­beitshandschriften. Meistens gab es nur eine solche, aber in ein paar Fällen zwei. Die meisten von ihnen befinden sich heute noch, oder z. T. wieder dort, wo sie die Erben 1903 deponierten: im Märkischen Museum Berlin.

Von diesen Arbeitshandschriften fertigte meistens die Frau des Dichters, Emilie Fontane, die Reinschriften für den Vorabdruck in der jeweiligen Zeitschrift an. Diese Arbeit war, wenn man die Arbeitshandschriften kennt, offenbar notwen­dig : hätte Fontane sie eingeschickt, so hätten Lektoren und Setzer gestreikt, oder es wäre ein solcher Unsinn gedruckt worden, daß es mit der Roman­schreiberei vorläufig aus gewesen wäre. Denn es gibt keine sauberen, leicht lesbaren Seiten darin: überall ist hineingeändert worden, manchmal bis zur totalen Unleserlichkeit für jeden, der weder Dichter noch gedruckten Text zu Rate ziehen kann. Überall hängen Zettel, womit Verbesserungen mit dem Kleisterpinsel hinzugefügt, oder wo treffende Stellen aus anderen Blättern her­ausgeschnitten und eben umdisponiert wurden. Es gibt sogar Kleisterkleckse, w ° einmal ein Zettel gehangen hat, den es gar nicht mehr gibt, und wo man nicht wissen kann, ob er vom Dichter oder durch Einwirkung der Zeit oder fremde Hand entfernt wurde. Da die Reinschriften von Emilie Fontane stamm-

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