„strategischen" Verfahrens und konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf die Nahtstellen, bis ich auf ein Schriftbild stieß, das kein anderes Schriftbild überlappte, sondern immer überlappt wurde. Wollte man die Entstehungsfolge aller Schriftbilder genau bestimmen, so mühte man wesentlich länger daran arbeiten, während das interessanteste Ziel eigentlich schon erreicht worden war, ehe es ins Auge gefaßt wurde, nämlich die Aufdeckung der zwischen Mitte November und Weihnachten 1895 entstandenen ersten Niederschrift. Klar, diese Zielsetzung klingt beinah zu schön, um realisierbar zu sein, aber in der Praxis erwies sich das älteste Schriftbild als das am leichtesten zu bestimmende. Dabei muh man sich nicht allein auf das Schriftbild, sondern kann sich auch auf Anhaltspunkte ganz anderer Art stützen.
Diese sind inhaltlicher Art und an anderen Quellen datierbar. Für den Stech- lin ist der Brief an C. R. Lessing vom 6. Juni 1896 wichtig, weil er eine einschneidende und frühe Änderung belegt, die etwa fünf Monate nach Abschluh der ersten Niederschrift vorgenommen wurde. Nicht mehr sollte der Rechtsanwalt Katzenstein für die Fortschrittspartei die Reichstagsersatzwahl gegen den Herrn von Buch auf Nassenheide gewinnen, sondern der Feilenhauer Torgelow für die Sozialdemokraten gegen Dubslav von Stechlin.
Zunächst geht es bei der Datierung aber nicht um die Wahlbeteiligten, sondern um den Pastor — auch deswegen, weil er in den meisten Kapiteln erwähnt wird, was die Datierung merklich beschleunigt. Es gibt nämlich ein altes Umschlagblatt mit Inhaltsübersichten (Kap. 21, Bl. 8 Rückseite), wo der Name des Wahlsiegers Katzenstein neben dem Namen des Pastors Lorenzen steht; aber jenes Schriftbild, das nirgends überlappt, kennt den Pastor unter dem Namen Lorenz. Demnach muh dieser Name noch einige Zeit vor dem Mai 1896 von Lorenz in Lorenzen geändert worden sein. Der dazu zur Verfügung stehende Zeitraum ist einerseits relativ kurz, und dennoch findet man dieses Schriftbild mit dem Namen Lorenz streckenweise durch den ganzen Roman hindurch. Somit können wir mit nahezu absoluter Sicherheit behaupten; wo der Pastor Lorenz heißt und dieses Schriftbild vorkommt, ist erste Niederschrift, sind Blätter der ersten Arbeitsphase, die wir Erstephaseblätter nennen wollen.
Hier soll eine kleine Einschränkung gemacht werden, da von der Stechlin- Arbeitshandschrift seit Ende des Zweiten Weltkrieges die Kapitel 1 bis 20 und 46 restlos fehlen. Trotzdem kann behauptet werden, daß sich ein gewisses Schriftbild streckenweise durch die ganze Handschrift zieht, und zwar aufgrund von Rückseiten. In den restlichen Kapiteln 21 bis 45 weisen mehr als vierundfünfzig Rückseiten das Schriftbild der ersten Niederschrift mit dem Namen Lorenz auf. Dies sind auch die Rückseiten, die Julius Petersen 1 ’ für die Bruchstücke einer alten, verschollenen, nirgends belegten Fassung hielt. Was aber für einen geübten Textkritiker wie Petersen merkwürdig anmutet, ist, daß er anscheinend gar nicht gemerkt hat, daß viele Vorderseiten — vorausgesetzt, man denkt die Korrekturen weg — genau das gleiche Schriftbild und dieselbe Nomenklatur aufweisen wie jene Rückseiten.
Was Petersens Kurzsichtigkeit angeht, so möchte ich sie ausschließlich auf den rein philologischen Begriff der „Fassungen" zurückführen. Genau genommen gibt es nur eine Fassung des Stechlin, die allerdings immer wieder erweitert, gekürzt, geändert und geschliffen wurde. Die Rückseiten der ersten Phase sind relativ sauber, und Petersen hat viele von ihnen abgedruckt. Auch die Ände-
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