Hans Vaget, sind ihm darin gefolgt. Tatsache ist aber, da# die Psychographie mit Fontanes psychologischer Darstellung nicht mehr als mit allen anderen Aspekten seiner Erzählkunst zu tun hat. Vermutlich sind die deutschen Lexika an diesem Mißverständnis schuld, denn die Konversationslexika von damals geben bessere Auskunft darüber als die heutigen. Die Fremdsprachenwörterbücher sind hier verläßlicher: z. B. heißt Psychograph auf englisch „ouija board". Er gehört zur Standardausrüstung von Geistersehern und bei Seancen, ist eine Art Schreibapparat und gehört zum Sortiment moderner Spielzeug- hersteller. Er besteht aus zwei ungleich großen Teilen, einem größeren Brett mit sämtlichen Buchstaben und Zahlen, und einem kleineren, auf Filzfüßen beweglichen Zeiger. Der bzw. die Spieler legen einen oder mehrere Finger auf den Zeiger, der hinundhergleitet über dem Zeichenbrett, und während er sich bewegt, versucht man die Reihenfolge der berührten Buchstaben zusammenzureimen, falls nicht gleich Wörter buchstabiert werden. Dieses Spiel ist bereits aus der Antike überliefert und genießt mancherorts, besonders in England, Popularität als Gesellschaftsunterhaltung. Wenn Fontane also sagt, er habe Effi Briest .wie mit dem Psychographen geschrieben" 8 , dann heißt das, es sei ihm so vorgekommen, als. habe ihm eine Geisterhand die Feder geführt.
Ein vor mehreren Jahren erschienener Artikel Hermann Frickes 9 hat Verwunderung hervorgerufen, aufgrund der Darstellung des dichtenden Fontane als eines sich' bewußt in Trance Versetzenden, auf einem türkischen Schemel sitzend und mit einer roten Fezmütze auf dem Kopf. Nur Wissenschaftler können von einer solchen Vorstellung schockiert werden — Künstler überhaupt nicht. Und es ist gewiß dieses In-Trance-Schreiben, das zu der gleichmäßigen, schwachen Schrift geführt hat. Die geistige Abwesenheit erklärt vollkommen, warum der Dichter die Feder erst dann eintunkte, wenn er die Wörter kaum noch sehen konnte. Die Eingebung hätte ihm sonst entschlüpfen können. Wenn nun Fontane zwei so ganz verschiedene Stimmungen beim Schreiben empfand — hier den Trancezustand der ersten Niederschrift, dort die Akribie und Berechnung der viel mehr Zeit in Anspruch nehmenden Korrektur —, so ist es kaum verwunderlich, daß der unterschiedlichen Qualität des subjektiven Empfindens eine unterschiedliche Quantität im objektiven Schriftbild entspricht. Der Terminus .Psychographie" mag nur Gleichnis sein, aber er bezeichnet etwas Erkennbares, und dieses Etwas sichtbar zu machen und zu analysieren ist eine philologische und interpretative Arbeit, die sich lohnt. Sie ist auch jederzeit nachprüfbar, sofern das Schriftbild erreichbar gemacht und ungeändert gelassen wird, d. h. durch Faksimilewiedergabe.
Die Berechtigung der Faksimileherausgabe der Arbeitshandschriften liegt also im Wesen des Gegenstandes und seiner Entstehung verankert. Eine solche Veröffentlichung würde das unmittelbare Studium ermöglichen, während sie die Originale schonen und schützen würde. Zu gewinnen wäre nicht die Sicher rung der Texte, die sowieso nie zur Debatte gestanden hat, sondern die Dekon- struktion der Texte mit dem Ziel einer Durchleuchtung der Fontaneschen Mehrdeutigkeit und der Erkenntnis des Ausgangskonzepts. Es wird möglich sein, eine Erzählschicht abzuheben, wo Thematik und Handlung noch Hand in Hand gehen — mitsamt der Schritte, die von dort ausgehend die Rundung, den Schliff, den feinen Stil, den Weitblick und die Versöhnlichkeit mit sich brachten.
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