Entziffern dieses Dokuments bereitet. Nun halte ich es für einen sehr elitären Standpunkt, dem Leser ein Faksimile einer so komplizierten Handschrift vorzulegen und ihn damit alleine zu lassen. Abgesehen davon, daß eine solche Haltung einer Bankrotterklärung der Editionsphilologie gleichkommt, sind zum einen nicht alle Literaturwissenschaftler geschulte Paläographen, denen die Entschlüsselung eines solchen Manuskripts ohne weiteres gelingt, zum andern erscheint es mir grundsätzlich fragwürdig, ob das Interesse an der handwerklichen Entstehung literarischer Kunstwerke tatsächlich nur bei einem kleinen Kreis von Forschern vorhanden ist. Das Interesse auch des Laien an einer kritischen Edition sollte nicht unterschätzt werden. Textedition hat auch etwas mit demokratischer Verfügbarkeit von Literatur zu tun, und diesem Ziel dient eine — wenn auch komplizierte, so doch durchschaubare — gedruckte und editorisch aufbereite Präsentation des Textes und seiner Genese mehr als eine nur einem kleinen Kreis von Fachleuten zugängliche Faksimilewiedergabe einer Arbeitshandschrift.
Ein weiteres Problem liegt in der wirtschaftlichen Realisierbarkeit der vorgeschlagenen Editionsmodelle. Anderson argumentiert, die komplizierten Apparat- und Zeichensysteme, die eine Edition im Stile Mugnolos erfordern würde, seien von den Verlagen und Setzereien kaum zu bewältigen — ein Problem, das sich durch den Einsatz der modernen EDV-Verfahren durchaus lösen läßt, wie etwa die kritische Edition des Ulysses von'James Joyce zeigt (hrsg. von Hans Walter Gabler, New York/London 1984). Dagegen ist die Herstellung einer Faksimileausgabe keineswegs so einfach zu bewerkstelligen, wie Anderson glaubt. Zum einen verlangt er von einem Faksimile, es müsse einen «unmittelbaren Eindruck" der Handschrift vermitteln, zum andern meint er, die Produktion eines solchen Faksimiles »der heutigen Fotokopiertechnik" anvertrauen zu können. Mit der bloßen Fotokopie einer komplizierten Handschrift ist der »unmittelbare Eindruck" allerdings weitgehend dahin — will man aber ein originalgetreues Faksimile produzieren, bedarf es eines aufwendigen Mehrfarbendrucks, über dessen immense Kosten sich Anderson nicht informiert zu haben scheint. Die Unterschiede zwischen einer Fotokopie und einem Faksimile sollten demjenigen aber doch wohl geläufig sein, der solche Vorschläge unterbreitet.
III.
Während Andersons »Plädoyer für eine Faksimileausgabe" nicht zu überzeugen vermag, hat Mugnolo ein ausgesprochenes Plädoyer für sein eigenes Modell gar nicht erst nötig. Wer die kommentierende Einleitung zu seinen Vorarbeiten liest, muß erkennen, welche faszinierenden Aufschlüsse aus der Untersuchung der Textgenese in den Handschriften zu gewinnen sind (vgl. dazu auch Otfried Keilers Vorwort, Seite IX) und kann eigentlich nicht mehr an der Notwendigkeit und dem Nutzen einer solchen Edition zweifeln, einer Edition, die — anders als Andersons Faksimileausgabe — auch vom interessierten Laien mit Gewinn und Genuß zu benutzen wäre. Die folgenden Bemerkungen sind denn auch nicht als grundsätzliche Einwände gegen Mugnolos Modell zu verstehen, sondern als Vorschläge zur pragmatischen Verbesserung der von ihm entwickelten Apparate und der Textdarbietung.
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