Heft 
(1987) 43
Seite
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1. die Formulierung des Autors selbst, daß dieses Werk nichts anderes als ein politischer Roman" sei,

2. die in einigen Rezensionen kurz nach der Veröffentlichung des Romans, d. h. nach dem Tode des Dichters selbst, geäußerte Auffassung, daß man in diesem Roman eine Art Vermächtnis des sich dem Tode Nähernden sehen könne,

3. C. Wandreys Beurteilung in seiner der ersten Fontane-Monographie (1919), daß gerade in diesem Alterswerkdas Versagen der Gestaltungs­kraft" zu beobachten sei,

4. J. Petersens Behauptung in seiner Abhandlung über denStechlin" (1928)*, daß hier unumstrittenRudimente des Bildungsromans" zu finden seien.

Was die letztgenannte Arbeit betrifft, so enthielt sie sozusagen eine epoche­machende Argumentation, in der zwar der Verfasser auf manche neuen Mate­rialien wie unveröffentlichte Handschriften Fontanes zurückgriff, aus ihnen aber darauf schloß, daß Fontane diesen Roman als einen Bildungsroman ent­worfen habe, wo aus einemAdel, wie er ist", mit der Zeit einAdel, wie er sein sollte", werde, bis er als Realist, dem mehr am Sein liege als am Sollen, auf diesen Entwurf habe verzichten müssen.

Da sich die Worte C. Wandreys von den anderen Äußerungen ziemlich unter­scheiden, scheint es uns passend, sie hier als erste näher zu betrachten.

Im vierten Teil seines Buches 2 bemängelt Wandrey, daßDer Stechlin"das Versagen der Gestaltungskraft" 3 des alten Fontane beweise, indem darin die Hauptpersonenschemenhaft" blieben und die Gesprächstechnik sich sogar verselbständige", kurz, das ganze Werk, arm an charakteristischen Gestal­tungen überhaupt, einfach zu einer Zusammensetzung vonfontaneschen Apho­rismen" geworden wäre. Daher erschien ihm Fontanes Kennzeichnung des Stechlin" als politischer Roman überhaupt nicht wert, ernst genommen zu werden.

Aber gegen diese Unterschätzung wandte sich Thomas Mann noch im gleichen Jahre, und zwar in einem Aufsatz' 1 , worin er zum Erscheinen dieses ersten Fontane-Buches herzlich gratulierte. Er erkannte denStechlin" nicht nur an, sondern war sogarentzückt, verzaubert". Außerdem war hier sogar die Rede von denKunstreizen, die weit über allen bürgerlichen Realismus hinaus liegen" 5 . Von ein paar Ausnahmefällen wie Lukäcs'Der alte Fontane" (1950) abgesehen, wurde auch danach immer wieder in dieser Beziehung Kritik an Wandrey geübt, bis P. Demetz, unseren Roman strukturell analysierend, die Mannsche Beurteilung bestärkte; nach Demetz ist es ein großer Irrtum, an einenCharakterroman" 0 wie denStechlin", in dem sichdas additive Prinzip" durchsetzt 7 , denselben Maßstab anzulegen wie an die Werke vorEffi Briest", wo sich noch Ereignis und Figur in dialektischer Verschränkung bewegen. Übrigens werden wir später solche strukturellen Eigenschaften des Romans etwas eingehender erörtern.

Auf diese Weise ist heute, wo man die sogenannteFontane-Renaissance" in den sechziger Jahren schon hinter sich hat, die von Wandrey vertretene Unter­schätzung desStechlin" wegen seiner spannungslosen Handlung und wegen seiner nicht individuell erscheinenden Figuren, von denen man resümieren könnte, sie schlügen im großen und ganzen den Fontane-Ton an s , mit gutem

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