1. die Formulierung des Autors selbst, daß dieses Werk nichts anderes als ein „politischer Roman" sei,
2. die in einigen Rezensionen kurz nach der Veröffentlichung des Romans, d. h. nach dem Tode des Dichters selbst, geäußerte Auffassung, daß man in diesem Roman eine Art Vermächtnis des sich dem Tode Nähernden sehen könne,
3. C. Wandreys Beurteilung in seiner — der ersten — Fontane-Monographie (1919), daß gerade in diesem Alterswerk „das Versagen der Gestaltungskraft" zu beobachten sei,
4. J. Petersens Behauptung in seiner Abhandlung über den „Stechlin" (1928)*, daß hier unumstritten „Rudimente des Bildungsromans" zu finden seien.
Was die letztgenannte Arbeit betrifft, so enthielt sie sozusagen eine epochemachende Argumentation, in der zwar der Verfasser auf manche neuen Materialien wie unveröffentlichte Handschriften Fontanes zurückgriff, aus ihnen aber darauf schloß, daß Fontane diesen Roman als einen Bildungsroman entworfen habe, wo aus einem „Adel, wie er ist", mit der Zeit ein „Adel, wie er sein sollte", werde, bis er als Realist, dem mehr am Sein liege als am Sollen, auf diesen Entwurf habe verzichten müssen.
Da sich die Worte C. Wandreys von den anderen Äußerungen ziemlich unterscheiden, scheint es uns passend, sie hier als erste näher zu betrachten.
Im vierten Teil seines Buches 2 bemängelt Wandrey, daß „Der Stechlin" „das Versagen der Gestaltungskraft" 3 des alten Fontane beweise, indem darin die Hauptpersonen „schemenhaft" blieben und die Gesprächstechnik sich sogar „verselbständige", kurz, das ganze Werk, arm an charakteristischen Gestaltungen überhaupt, einfach zu einer Zusammensetzung von „fontaneschen Aphorismen" geworden wäre. Daher erschien ihm Fontanes Kennzeichnung des „Stechlin" als politischer Roman überhaupt nicht wert, ernst genommen zu werden.
Aber gegen diese Unterschätzung wandte sich Thomas Mann noch im gleichen Jahre, und zwar in einem Aufsatz'’ 1 , worin er zum Erscheinen dieses ersten Fontane-Buches herzlich gratulierte. Er erkannte den „Stechlin" nicht nur an, sondern war sogar „entzückt, verzaubert". Außerdem war hier sogar die Rede von den „Kunstreizen, die weit über allen bürgerlichen Realismus hinaus liegen" 5 . Von ein paar Ausnahmefällen wie Lukäcs' „Der alte Fontane" (1950) abgesehen, wurde auch danach immer wieder in dieser Beziehung Kritik an Wandrey geübt, bis P. Demetz, unseren Roman strukturell analysierend, die Mannsche Beurteilung bestärkte; nach Demetz ist es ein großer Irrtum, an einen „Charakterroman" 0 wie den „Stechlin", in dem sich „das additive Prinzip" durchsetzt 7 , denselben Maßstab anzulegen wie an die Werke vor „Effi Briest", wo sich noch Ereignis und Figur in dialektischer Verschränkung bewegen. Übrigens werden wir später solche strukturellen Eigenschaften des Romans etwas eingehender erörtern.
Auf diese Weise ist heute, wo man die sogenannte „Fontane-Renaissance" in den sechziger Jahren schon hinter sich hat, die von Wandrey vertretene Unterschätzung des „Stechlin" wegen seiner spannungslosen Handlung und wegen seiner nicht individuell erscheinenden Figuren, von denen man resümieren könnte, sie schlügen im großen und ganzen den Fontane-Ton an s , mit gutem
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