Recht fast gänzlich verschwunden. Aber in der Tat läßt sich unser Problem dadurch kaum erledigen, denn dieser Roman ist zweifellos geeignet, Stellungnahmen wie die WandreyscKe hervorzurufen, und wir müssen zugeben, daß diese Eigenschaft mit den anderen oben dargelegten Ansichten über den Roman in einem tiefen, subtilen Zusammenhang steht. Das gilt auch für das politische Wesen des „Stechlin". Ehe wir darauf eingehen, wollen wir uns mit der Auffassung beschäftigen, dafj es sich beim „Stechlin" um das Vermächtnis des Dichters handle, dessen Lebensende bevorstand.
Diese Auffassung, die kurz nach Fontanes Tod und dem Erscheinen des „Stechlin" in Buchform von mehreren Rezensenten (z. B. Paul Mahn in der Vossischen Zeitung, Fritz Mauthner im Berliner Tageblatt ) 9 geäußert wurde, deckt sich aber mit der obigen Wandreyschen Stellungnahme teilweise, denn sie deutet auch ihrerseits darauf hin, daß sich dieses Werk hauptsächlich aus fontaneschen Aphorismen zusammenzusetzen scheint, mit anderen Worten, daß es sehr zum Selbstbekenntnis neigt. In dieser Hinsicht hat man auch den „Stechlin" als „die Summe des gesamten Lebenswerkes " 10 von Fontane zu erfassen versucht. Wir sind überzeugt, daß aus diesem letzten Werk die Summe der Betrachtungen, die Fontane sein ganzes Leben lang über Mensch und Gesellschaft und besonders üb'er den Wandel der Zeit anstellte, unerschöpflich herausklingt. Ist es also nicht vielsagend, daß mit diesem Werk nicht nur sein schöpferisches Leben zu Ende ging, sondern auch die Hauptfigur, der alte Stechlin, in dem man einen Doppelgänger des Dichters sehen könnte 11 , im Verlauf der Erzählung den Tod findet? Weil hier nämlich der Tod sowohl für den Dichter als auch für den Helden nicht als äußerliches Ereignis stattfindet, sondern eben als ein innerliches, hat „Der Stechlin" wahrhaftig zum Vermächtnis des alten Fontane werden können.
Wir wissen jedoch, daß es in dieser Beziehung auch eine andere Auffassung gibt: im Hinblick auf den Plan der „Likedeeler", in den sich Fontane vertieft hatte, unmittelbar bevor er an den „Stechlin" ging, sei anzunehmen, er hätte nicht jenen Romanentwurf als „Plan des Ehrgeizes" erkannt und verworfen 12 , um mit Th. Mann zu sprechen, sondern dessen Ausarbeitung nur verschoben . 13 Wenn wir nun etwa einfach diese Auffassung erweiterten, so würden wir uns mit der obenerwähnten Ansicht, daß der „Stechlin" als „die Summe des gesamten Lebenswerkes" des Dichters einzuschätzen sei, in Widersprüche verwickeln. Wir können jedoch gerade aus den entstehungsgeschichtlichen Tatsachen eine so große Bedeutung des „Stechlin" herauslesen, daß es scheint, als ob er schließlich selbst die „Likedeeler" zu implizieren vermochte. Fontane hatte sich noch kurz vorher eingehend mit dem nordisch-balladesken Stoff beschäftigt, ihn trotzdem verworfen und sich mit einem Mal unserem neuen Roman zugewandt 14 , der in der Mark und in Berlin spielt, um ihn dann so kurzfristig wie nie zuvor zu vollenden 15 , als wolle er seinem eigenen heranrückenden Tode zuvorkommen.
Jedenfalls dürfen wir nicht übersehen, daß die „Likedeeler" gewissermaßen in den fertiggeschriebenen letzten Roman eingegangen sind, obwohl sie sich darin nicht vollkommen verloren haben, wie H. Fricke betonte . 10 Hätte beispielsweise Fontanes Streben nach einer Aussöhnung zwischen seinem ältesten und romantischsten Balladenstil und seiner modernsten und realistischsten Romanschreiberei 1 ! 7 , die der geplante Seeräuberroman erreichen sollte, auf den
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