len, aufgrund einer Zeile seines Briefes, in der er die „Gegenüberstellung von Adel, wie er bei uns sein sollte, und wie er ist" (an C. Robert Lessing, 8. 6. 1896) 33 erwähnte, nur noch für oberflächlich ansehen. Nach unserer Ansicht verstehen nicht nur der junge Woldemar, sondern auch andere adlige Hauptpersonen wie der alte Stechlin und der alte Barby, die beides. Altes und Neues, auf eine komplizierte Art in sich hegen und deshalb hin und her schwanken, die Wirklichkeit als Schauplatz gerade der Auseinandersetzung zwischen Altem und Neuem. Darauf weist beispielsweise Czako, eine der Nebenfiguren, im Gespräch mit seinem Freund nachdrücklich hin. 34
Im Grunde bestätigt sich, daß Fontane, der als Schriftsteller viele Jahre die preußisch-deutsche Wirklichkeit genau beobachtet und vielfältig geschildert hatte, das Wesen dieser Auseinandersetzung zwischen Altem und Neuem, die gelegentlich die zwischen Adel und Sozialdemokratie sein kann, oder wie man sie sonst nennen will, viel realistischer erfaßt hat als es den Anschein hatte. So ist auch in seinen Briefen an Friedlaender 33 seine scharfe Kritik gegenüber dem Adel, der sich zu Unrecht darum bemühte, die neuen gesellschaftlichen Bewegungen zu unterdrücken, und zugleich seine Hoffnung auf den empordringenden vierten Stand zu finden. Eigentlich ist unser Roman nichts anderes als die dichterische Gestaltung dieser Kritik und Hoffnung im großen Stil. Dennoch ist es nicht ganz unsinnig, im „Stechlin" ein „Denkmal seiner Liebe zum Adel" 33 zu sehen. Vom Wandel seiner widerspruchsvollen Adelsauffas- sung J ' abgesehen, so wird doch die Tatsache, daß trotz seiner Hoffnung auf den vierten Stand in den Briefen dieser hier nur schattenhaft auftaucht, unserer jetzigen Betrachtung eine unmittelbare Hilfe leisten.
Und nun zurück zu Petersen. An seinem Aufsatz über den „Stechlin" übt Ch. Jolles im obigen Sinne Kritik, wobei sie allerdings auch die Bedeutung seiner Problemstellung zu schätzen weiß. 38 Hans-Heinrich Reuters Vorwurf richtete sich vor allem gegen die Ideologie des Verfassers. 39 Aber bereits ein Jahr nach dem Erscheinen von Petersens Aufsatz wurde dieser richtig dahingehend beurteilt, daß sich Petersen mit den Vorarbeiten des Dichters zu fleißig beschäftigt und so das Gewicht der Endfassung vergessen habe. 40 Hätte sich der alte Fontane, der seit „Vor dem Sturm" fortdauernd Gesellschaftsromane schrieb, mit diesem letzten Endes testamentarischen Werk auf einmal davon abgewandt und nach einem Bildungsroman gegriffen, der doch seinem dichterischen Wesen fremd war? Solche Zweifel waren der Grund, daß wir Betrachtungen über Petersens Abhandlungen angestellt haben, uns stets darauf berufend, was wir unter dem Wort „politisch" verstehen sollten.
Wie schon erwähnt, wird dieser Roman in Kapitel eingeteilt, und zwar insgesamt 46 Kapitel, die sich weiter auf 9 Teile mit ihren eigenen Untertiteln verteilen, und der Reihenfolge der Kapitel nach wird darin der Zeitraum vom Oktober 1896 14 bis zum September des nächsten Jahres etwa linear verfolgt, obgleich der Roman schon im Frühjahr mit dem Tode des alten Stechlin im wesentlichen zu Ende geht. Also hat der „Stechlin" eine einfache Konstruktion von „dann-und-dann", wovon Demetz epiictit, 42 und woraus wir das Fazit ziehen können, daß, was Fontane in bezug auf „Die Poggenpuhls" aussprach - „Das ,Wie' muß f“» uas ,Was' eintreten" (an Siegmund Schott, 14. 2. 1897) 43 — hier in noch größerem Stil verwirklicht ist. Das Werk ist nämlich, wie gesagt, nicht derart beschaffen, daß darin die Personen einen Bildungsprozeß durch-
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