Heft 
(1987) 43
Seite
563
Einzelbild herunterladen

in seiner Herwegh-Zeit noch ebenso verehrt hat wie in den voraufgegangenen Jahren, deckten sich für ihn die beiden lyrischen Welten keineswegs, sondern äußerte sich darin nur die andere Seite seiner so vielfältig veranlagten Natur, nämlich die seines tiefen Verwachsenseins mit der Spätromantik. Daran hatte sich bei ihm auch im Alter nichts wesentlich geändert, während ihm von seiner jugendlichen Begeisterung für die demokratische Freiheit nicht mehr als eine ihm eher unbequeme Erinnerung geblieben war, die er wenige Jahre später in seiner Autobiographie sogar auf die leichte Schulter nehmen sollte. Anderer­seits aber stimmt es auch nicht, daß Lene dem Ordnungsprinzip Bothos gegen­über so einfach das Prinzip der Freiheit vertritt. An damaligen moralischen Vorstellungen gemessen nimmt sie sich gewiß instinktsichere .Freiheiten' her­aus, so daß gewisse Leser des Romans, die es eigentlich hätten besser wissen sollen, diesen noch als .Hurengeschichte' abtun konnten. Dementsprechende .Freiheiten' aber leistet sich ja auch »Baron Botho", nur daß man es bei einem schmissigen jungen Offizier geradezu voraussetzte, es gehörte sozusagen zum .guten Ton', nur durfte es nicht im Druck auf den Buchstaben hin festgelegt werden. Einem jungen Mädchen dagegen im entsprechenden biologischen Alter aber ließ man derartiges nicht durchgehen. Nebenher sei bemerkt, daß wir diesen Dingen heute anders gegenüberstehen, im Prinzip der Frau die gleichen Rechte zuerkennen, und doch ist offenbar etwas in uns, das diesen Durchbruch nicht mitvollzogen hat, denn kaum ein Leser wird Lenes Geschichte heute aus diesem Grunde als veraltet empfinden. Wichtiger aber ist, daß auch Lene das Ordnungsprinzip ohne Vorbehalte akzeptiert, auch wenn sie darüber, wie sie weiß, »unglücklich" werden wird. Mit diesem Argument kommen wir dem Problem also nicht näher. Was Lenau und Fontanes Lenau-Verständnis zur Zeit seines Romanschaffens betrifft, so erinnern wir uns an die Worte Hugos in Mathilde Möhring, daß man »seinen Lenau doch nicht umsonst intus" habe, worauf er die schlagfertige Antwort erhält:Lyrik schützt vor Dummheit nicht", mit der die pragmatische Mathilde die Lenau-Welt in ihre Bereiche verweist.

Lenau war für Fontane zeit seines Lebens der Dichter sich einschmeichelnder sentimentaler, ,das Herz bewegender'. Liebes- und Naturlyrik gewesen, und in dieser Rolle begegnen wir ihm nicht erst im Grafen Petöfy, sondern er hatte sich schon in jungen Jahren selbst darin gefallen, als er seine ersten soweit sie erhalten sind Gedichte an seine Jugendliebe Minna Krause zu Papier brachte, mit Abschriften für seine eigene Mutter. Daß er sie bewahrt wissen wollte, und wer konnte dafür besser sorgen als die auf ihren Sohn so stolze Mutter, ist wohl ein Beleg dafür, daß er hier seinen eigenen ,Ton' gefunden zu haben glaubte. Das war 1838, zwei Jahre bevor er sich in Berlin dem Lenau-Klub" anschloß.

Aus all dem dürfen wir wohl schließen, daß Fontane, Vielleser der er war, mit Lenaus damals schon vorliegenden Veröffentlichungen, vor allem seiner Lyrik, (Gedichte, 1832, Neuere Gedichtei 1835) vertraut war, um es milde aus­zudrücken. Seiner Neugier wird daher auch nicht die Veröffentlichung 1835 der Jugendbriefe Lenaus an seinen Freund Fritz Kleyle entgangen sein, und wenn er sie in späteren Jahren .vergessen' haben sollte, konnten ihm die beiden 1855 erschienenen Veröffentlichungen, nämlich die erste, von Anasta­sius Grün besorgte Gesamtausgabe von Lenaus Werken in vier Bänden und

563