Heft 
(1987) 43
Seite
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in die Versuche Fontanes zur Selbstverständigung ein, die nicht nur Storm und ihn betrifft. Die Bedingungen für Literatur werden sichtbar, auch wenn sie nicht so benannt werden.

Horst Denkler wog die Vergleichbarkeit solcher Autoren wie Raabe und Fon­tane ebenso neuartig (vom Ansatz her) ab. Zwei sehr verschiedene Menschen, so Denkler, seien ins gleiche Boot geraten, von dem aus sie verwandte Frage­stellungen aufgriffen. Die Lösungen sind auf den ersten Blick eher unter­schiedlich, zumal die beiden Autoren »zu sich" finden, indem der eine nicht ohne das Leben der großen Stadt schreiben konnte, der andere nur aus dem Rückzug zum weiten Blick gelangt. Es genügt eben nicht, literarische Verfah­rensweisen und politische Horizonte in den Texten einander gegenüberzu­stellen; als tertium comparationis müßten alle Seiten »der Verhältnisse" her­angezogen werden, nicht zuletzt die Auffassungen von der Rolle des Autors (die sich bei Fontane stärker wandelt). Obwohl beide voneinander wußten und ihre Wertschätzung auch formulierten, blieben sie, nach einem Wort von Raabe (1881) »gute Bekannte miteinander ohne es zu einer persönlichen Bekanntschaft gebracht zu haben".

Beide Referenten gelangten zum jeweiligen Rollenverständnis. Denkler ver­deutlichte auch in der Diskussion an Raabes enttäuschter Reaktion von 1870/71 (als er mit offizieller Anerkennung für nationale, literarische Verdienste gerech­net hatte, die ausblieb), daß Fontanes Desillusionierung nicht isoliert gesehen werden darf (als dieser 1874 vergeblich auf Auszeichnung hoffte). Wenn Bettina Plett von einer Geibel-Situation und einer Fontane-Situation sprach, so ent­stand zwar ein plastisches Bild der Verhältnisse in München und Berlin, aber die Projektion der in der Tat grundverschiedenen Texte auf diese Situation gelang nicht immer in Richtung eines Dichterbegriffes, für den das Material auch Grenzen setzt. Dennoch läßt sich von diesem Material neu und anregend über den zum Klischee erstarrten Begriff des Epigonentums nachdenken, wofür Referentin die Traditionsbeziehungen und die enorme Auflagenhöhe der Gei- belschen Texte zu nutzen wußte.

Alsepigonales Überbleibsel" könne sogar Fontane erscheinen, wenn man auf ihn eine starre Dekadenz-Definition anwende, meinte Ronald Speirs in seinem überaus anregenden Beitrag. Indem er einen Begriff entwickelte, der im Blick auf die Frauengestalten vornehmlich Krankheitssymptome als gesellschaftliche Tatbestände vorführte, entging er der fruchtlosen Debatte, die mit Dekadenz bestimmte Literaturformen einkreisen will. Fontane kannte Max Nordau und hat mit ihm korrespondiert, Wagner- und Nietzsche-Bezüge wurden gestreift. Indem Referent vor allem auf den Nachweis aus war, wie Morbidität ins literarische Werk und die Rezensionen zu Ibsen oder Zola einfunktioniert wur­den, konnte gezeigt werden, daß die Schlagworte der Bewegung wie »Verfall", »Degenerierung" oder »Frische" eine sehr spezifisch Fontanesche Färbung bekamen und sich nur selten aus dem Bereich realer Beobachtung lösen. Fontanes zu Beginn des dritten England-Aufenthaltes geäußerter Anspruch, den renommierten Journalisten Lothar Bücher (der für die National-Zeitung tätig war, später enger Mitarbeiter Bismarcks wurde) aus seiner einflußreichen Position verdrängen zu können (ein »Trutz-Bucher" wollte er werden), mißlang. Aber Fritz Gebauer, der Autor einer Bucher-Biografie, wußte den Beziehungen beider zu England in dieser Phase so viel Vergleichbares abzugewinnen (Par-

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