Heft 
(1987) 43
Seite
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Gustav Sichelschmidt: Theodor Fontane. Lebensstationen eines grofjen Realisten. Wilhelm Heyne Verlag München 1986 (Heyne- Biographie 12/141). 411 S. und 15. S. Anhang. Mit Abbildungen. (Rez. Roland Berbig, Berlin]

Mehr als nur einmal bezeichnet Gustav Sichelschmidt, der neben dieser noch andere Biographien (u. a. über Martin Luther und Friedrich den Großen) ver­faßt hat, in seiner Lebensbeschreibung Fontane als dengroßen und grandseig- neuralen Causeur unserer Literatur" (S. 251). Dieses Bild von Fontane steht Pate bei der vorliegenden Darstellung der Lebensstationen des Schriftstellers. Sta­tionen das erinnert an Haltepunkte auf einer Bahnstrecke, die von einem Ausgangs- zu einem Zielbahnhof führt. Das Ziel definiert dabei die Punkte des Zwischenhaltes. Ganz in diesem Sinne verfährt Sichelschmidt: vom späten Fontane konzeptionell ausgehend, läßt er das Leben des Dichters Revue pas­sieren, wobei sein Blickwinkel in der Regel mit dem Fontanes in seinen auto­biographischen SchriftenMeine Kinderjahre" undVon Zwanzig bis Dreißig" sowie anderen schriftlichen Äußerungen im Alter zusammenfällt.

Diese finalbiographische Anlage erleichtert dem Verf. die Gliederung des Stoffes: für ihn ergeben sich drei, voneinander unterscheidbare Gruppen, die Einsicht (und klärende Übersicht) gestatten: Lehr-, Wander- und Meisterjahre. Obgleich auf eine Begründung dieser Einteilung verzichtet wird, darf vermutet werden, daß Sichelschmidt die Weltgeltung des Spätwerkes nach Fontanes Tod als Legitimation stillschweigend voraussetzt.

Der flüssige Darstellungsstil, der die Affinität zumtalent epistolaire" Fontanes spüren läßt, erweckt den Eindruck, als werfe die Lebensgeschichte, die hier erzählt wird, keine Fragen mehr auf. Der häufige Rückgriff auf Fontane in seinen Altersbriefen verführt den Verf. dazu, dessen stilisierte Auskünfte über frühere Lebensphasen wörtlich zu nehmen und ihnen vorbehaltlos Glauben zu schenken. Einerseits wird dieser Trugschluß durch die Bereitschaft des Bio­graphen verursacht, dem Schriftsteller in jeder Argumentation (poetischer wie politischer Natur) zu folgen und sie als die eigene wiederzugeben. Andererseits gibt es keinerlei Anzeichen dafür, daß es in seiner Absicht lag, auf möglicher­weise problematische Punkte in Fontanes Entwicklung detailliert einzugehen. Einzig, wenn es um Fontanes radikal-demokratische Wendungen geht, bemüht sich Sichelschmidt abzuschwächen und zu bagatellisieren.

Eklatante Folgen hat diese Grundkonzeption bei der Schilderung der welt­anschaulich-politischen Positionssuche, die sich für Fontane mehrfach mit markanten Lebensentscheidungen verband.

Beispielsweise übernimmt Sichelschmidt ungeprüft die Sicht des späten Fontane auf die Zeit des Vormärz und das Revolutionsjahr 1848. Sätze wie:Nicht mit einem Schlage hatte sich der Barde der brandenburgisch-preußischen Heroenzeit zu einem überzeugten Revoluzzer gemausert, der seine angesichts der eigenen prekären sozialen Lage durchaus verständlichen subversiven Anwandlungen zunächst noch privat kultivierte. Mit der zunehmenden Dramatisierung der

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