äußerst vertrackten deutschen Dinge allerdings empfand er schließlich keine Skrupel mehr, sich widerstandslos vom allgemein vorherrschenden Zeittrend mitreißen zu lassen" (S. 92) charakterisieren sich selbst. Sie verfehlen aber auch, zieht man die vordergründigen Wertungen ab, die tatsächliche Verhal- tensmotivik und funktional-orientierte Poesiekonzeption Fontanes im deutschen Vormärz. Derartige Formulierungen denunzieren den Dichter, wo sie ihn zu schützen vermeinen.
Die Sympathie mit einem traditionellen Fontane-Bild, das sich aus der literarischen Lobpreisung integren Alt-Preußentums, der Mark Brandenburg und der Darstellung „der Berliner Volksseele" (S. 301) zusammensetzt, verleitet den Biographen dazu, nur zögernd und unvertretbar selten den Ursprüngen dieses Bildes nachzugehen.
Sichelschmidt öffnet einem Fontane, der als „Lebensphilosoph" und „Lebenspraktiker" (S. 128) „heiter über den Dingen" (in dem Sinne u. a. S. 288) stand, die Tür, die die Fontane-Forschung spätestens seit Ende der sechziger Jahre als in die Irre führend verschlossen wissen möchte. Helmuth Nürnberger hat das im Einleitungskapitel seines Buches „Der frühe Fontane. Politik Poesie Geschichte" (Hamburg 1967) anhand der „Fontane-Legende" (siehe dort S. 13) und deren Hintergründen überzeugend erläutert. Besonders bedenklich erscheint die Wiedererweckung der Legende, da Ausstattung, Anlage und Preis der vorgelegten Biographie deutlich auf einen breiten Leserkreis zielen.
Die Einschränkung auf Fontane-Zitate und wenige (z. T. übrigens nicht nachgewiesene) Mitteilungen Dritter verstärkt das Leseempfinden, die eigentlichen Sachverhalte stets nur aus zweiter Hand zu bekommen. Der Verf. verzichtet beinahe gänzlich auf die Darstellung geschichtlicher Umfelder. Damit konzentriert er den Blick auf die Persönlichkeit Fontanes, die dadurch jedoch in Gefahr gerät, zu wenig konturiert zu erscheinen. Hugo Aust stellte vor einigen Jahren fest, daß „die historischen Ereignisse für Fontane (in der Tat) nicht nur mehr oder minder mächtige Impulse (bilden), auf die er reagiert, sondern sie verwandeln sich in ein Material, über das er eigenwillig verfügt" (Einleitung zu: Fontane aus heutiger Sicht. Analysen und Interpretationen seines Werkes. Herausgeber H. Aust. München 1980, S. 7) Diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen und Material von tatsächlichem Ereignis zu scheiden, versäumt Sichelschmidt. Das 19. Jahrhundert wird degradiert zur Kulisse. An manchen Stellen, besonders dort, wo die menschlichen Züge Fontanes geschildert werden, könnte es mit jedem beliebigen anderen ausgetauscht werden.
Das Kapitel über Fontanes „Preußentum" (S. 326—347) hat unter den Konsequenzen des bezeichneten Vorgehens besonders zu leiden. Ohne die Skizzierung der wechselvollen Geschichte des Preußentums im 19. Jahrhundert in Politik und Ideologie stellt sich kein Zugang zu Fontanes Äußerungen und literarischen Entwürfen her. Die Auffassung von der „preußischen Idee" verläuft sich dann im Urteil Sichelschmidts in kaum noch verwertbaren Aussagen („Am Beispiel Preußens pflegte Fontane zu exemplifizieren, was deutsche Menschen unter einer straffen und zielbewußten Führung erreichen können." S. 335 f.) oder gibt den preußisch-konservativen Zügen in Fontanes Orientierungshorizont vereinfachte Umrisse, die diesen komplizierten Sachverhalt banalisieren.
Mit der Wiedergabe traditioneller Interpretationen und Lesarten begnügt sich der dem „Romancier" gewidmete Abschnitt. Auf rund 50 Seiten erfahren die
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