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Linksrheinisch.
neues Dasein auf mit diesem Goethe, und ich segne mein Mißgeschick, das mir erlaubt, auch einmal etwas andres Zu treiben als Militärdienst."
„So was ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen," sagte Monsieur Merkte, nachdem sich der Besuch verabschiedet hatte, „ein junger Mensch, der alten Sagen nachspürt und den Goethe liest!"
„Lächerlich," rief Jeanne aus, „ich möchte es wirklich mit ansehen, wie er da oben aus dem Belchen steht und weit und breit kein Wunder geschieht."
Sie lachte laut aus, im Innern aber war sie unzufrieden mit sich selber; wie hatte sie nur die Hauptsache vergessen können: den Wink, die versteckte Bitte bei dem jungen Offizier anzubringen, welch ein Gefallen ihr damit geschähe, wenn er das Gartenhaus wieder räumte.
Sie besann sich eben, ob die Sache nicht besser brieflich abzumachen sei, als ihr auch schon das Buch, von dem die Rede gewesen, herausgebracht wurde. Sie dachte nicht daran, es zu lesen, nicht allein, weil Goethe unter die streng verbotenen Bücher des Klosters gehörte, sondern weil ihr überhaupt jedes Interesse am Lesen abging. Sie blätterte ein wenig in dem Buch, und als eine Visitenkarte herausfiel, hob sie dieselbe auf und las den Namen, der daraus stand.
Georg von Dumont, das paßte ebensowenig als Jeanne Merkle — Jeanne Dumont und Georg Merkle würden sich besser machen.
Damit legte sie die Karte in das Buch Zurück; zugleich aber bemerkte sie da und dort an der Seite eines Blattes kleine rote Striche, und sie fing an, zu lesen, bloß ans Neugier, was diese Zeichen bedeuten sollten.
Jeanne bezog noch immer ihre Lektüre ans dem Kloster, mit gewissenhafter Treue an dieser Gewohnheit sesthaltend, denn ihr war im Kloster eingeprägt worden, daß ein schlechtes Buch die Seele verderbe. Sie las diese Bücher, in denen der Glaube und die Verherrlichung der Tugend die Hauptrolle spielten, ohne tieferes Interesse; sie erweckten wohl den Wunsch in ihr, ein so heiliges, frommes und selbstloses Leben zu führen wie ihre Nonnen im Kloster, aber noch nie war ihr Gemüt durch ein Kunstwerk, durch etwas wirklich Schönes und Großes in Mitleidenschaft gezogen worden.
Nun hielt sie den verbotenen, so übel beleumundeten Goethe in der Hand. „Ich will nur einmal hineinsehen," sagte sie sich; „wenn's recht schlimm kommt, kann ich das Buch ja weglegen."
Sie hatte geglaubt, aus gehässige Vorurteile zu stoßen, denselben Zwiespalt vorzufinden, der jetzt die Gemüter beherrschte und sie feindlich trennte. Nichts von alledem. Der junge Wolsgang war kein ein
kostete sie durchaus keinen Kamps, das Buch Zu schließen, mit der Absicht, es am andern Tag zurückzuschicken.
Statt ihr Vorhaben auszuführen, setzte sich Jeanne mitsamt ihrem Buche im Laufe des Nachmittags in das kleine Gartenhäuschen von Holzrinde, dicht am Gitter des Nachbargartens; sie sagte sich, es sei hier am stillsten. Das war aber nicht die Wahrheit, sondern es nahm sie wunder, was ihr Vater und der deutsche Hanptmann an diesen: Gitter so Wichtiges miteinander zu verhandeln hatten, denn Monsieur Merkle, der sich sonst nur in: Garten hatte blicken lassen, um der Arbeit des Gärtners nachzuspüren, ging mit einemmal alle Tage nach Tisch am Gitter des Nachbargartens aus und ab, die Zigarre im Mund, die Zeitung aus dein Rücken tragend, und unterhielt sich mit dem Hauptmann, der sofort in seiner Gartenarbeit aushörte, um mit dem Nachbar zu lustwandeln.
Daß sich Jeanne in der Nähe aufhielt, wußten beide nicht; es führte ein schmaler Laubgang zu dem Gartenhäuschen; hinter demselben befand sich der breite Weg längs des Gitters.
„Manmußimmerrechnen," demonstrierte Monsieur Merkle in den Nachbarsgarten hinüber, „und darum die Menschen erziehen, zur Tüchtigkeit zwingen, ihnen den Daumen aufsetzen, bis ihnen die Pflicht in Fleisch und Blut übergegangen ist; das allein bringt Nutzen. Gehen Sie einmal in mein Arbeiterviertel und sehen Sie sich die Wohnungen, die Gärten und vor allen Dingen die Kinder an — gesunde, kräftige, lebensfähige Kinder, keine aufgeschwollene, skrofulöse, erbärmliche Geschöpfe, wie sie unter den Arbeitern so vieler andrer Fabriken anzutreffeu sind. Und warum? Ich sorge dafür, daß die Väter nicht trinken; mir entgeht keiner, der mit einem Rausch heimkommt; fort mit ihn:, ohne Erbarmen, bei mir ist kein Platz für Trunkenbolde. Das Mitleid mit den Schlechten ist der Untergang der Guten. Ich habe Feinde, viele Feinde, denn vom Wein lassen sie nicht gern, aber zum Streike:: haben sich meine Leute noch nie herbeigelassen, nicht um meinetwillen, sondern weil jeder ein Stückchen Scholle sein eigen nennt, weil er sein selbstgepflanztes Gärtchen, sein Haus, in den: er Herr und Meister ist, nicht aufs Spiel setzen möchte. Natürlich, noch besser haben, den Besitz und die Freiheit dazu, das wär' ihnen schon recht — und sie sind schlau, aber ich bin noch schlauer. Find' ich da au: Weg eine alte Großmutter mit ihrem Enkelkind, das im Sand spielt, und sie betet und betet, mit ihren: Rosenkranz Zwischen den Fingern, Tag für Tag. Ich frage sie einmal: Mas betet Ihr so viel, alte Frau?' „I bet" sagt sie, „daß mi Enkeli kei' Süferi ward." — So, denk' ich, holla! und komme Zufällig vorbei, wie die Familie der Alten beim Abendessen sitzt — eine starke Familie, auf mehr als dreißig Mark im Tag belief sich ihr Einkommen. Sie haben ihren Kalbsbraten aus den: Tisch und zwei Schüsseln mit jungen sag' ich, ,die Hab' ich heut auch Darauf steigt mir so was in die Nase, und es steht doch keine Flasche auf den:
seitiger Deutscher; er sammelte elsässische Volksüeder und machte französische Verse; eine friedliche Welt voll ernsten Strebens that sich vor ihr auf, und Jeanne, die sich von Goethe eine ganz schreckliche Vorstellung gemacht hatte, fand ihn langweilig. Es
Genüßen. ,Hm, zun: erstenmal gegessen?