Issue 
(1897) 13
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Linksrheinisch.

lassen, dem Eindringling Zu verstehen Zu geben, daß man ihn los zu sein wünsche. Allein trotz ihrer Unzufriedenheit mit sich selber, Mademoiselle Ieanne saß nun jeden Nachmittag im Gartenhäuschen am Gitter und lauschte den Gesprächen zwischen dem Fremden und ihrem Vater. Sie sagte sich, dies sei die beste Manier, ihre Welt- und Menschenkenntnis zu bereichern, und bildete sich ein, ihr Vater wisse von ihrem Ausenthalt im Hüttchen; er war allerdings einmal durch den schmalen Laubgang gekommen und hätte Ieanne auf ihrem Platz sehen können. Allein der Fabrikherr sah weder rechts noch links, er hatte weiter nichts im Sinn, als sich mit dem Hauptmann zu unterhalten; er wollte diesen Menschen kennen lernen, denn er mußte vielleicht in nicht allzu ferner Zeit dessen Hilfe in Anspruch nehmen. Monsieur Merkle befand sich zum erstenmal in seinem Leben in der Lage, einer Sache nicht Meister zu werden. Dieselbe betraf Jean Gilbert; kein Mensch begriff, was Monsieur Merkle veranlassen konnte, eine solche Langmut für den jungen Alaun au den Tag zu legen. Jean war allerdings ein ausgezeichneter Arbeiter, im übrigen aber lehnte er sich fortwährend gegen die Vormundschaft seines Prinzipals auf. Dieser hatte die Sparbücher seiner jungen Leute in Verwahrsam und zog ihnen die Hälfte ihres Gehalts ab, den er auf Zins anlegte.

Jean erklärte, er wolle sein Geld selbst ver­walten, er könne das so gut wie Monsieur Merkle. Er bestand darauf, seine Dienstzeit jetzt schon an­zutreten, obwohl sein Prinzipal wünschte, daß er damit bis zu seiner Einberufung warten möge. Jean erklärte, er wolle die Sache so bald wie möglich hinter sich haben, und verharrte in seinem Eigensinn.

Monsieur Merkle kam schließlich auf den Ge­danken, mit dein Hauptmann über die Sache zu reden; allein obgleich er täglich ans Gartengitter kam, war er noch immer nicht mit seinem Anliegen herausgerückt.

Wäre Ieanne nicht von ihren eignen Erlebnissen so benommen gewesen, die Unruhe und Zerstreutheit des Vaters hätten ihr ausfallen müssen. Sie hatte sich allen Ernstes in GoethesDichtung und Wahr­heit" vertieft aus Ehrgeiz, um dem Nachbar sagen zu können: Ich habe das Buch gelesen. Sie las den halben Tag, nur um fertig zu werden; ihr Interesse wurde jedoch plötzlich wach, als Friederike von Sesenheim in Goethes Leben auftauchte; da kam ihr das Verständnis, und Ieanne saß mit glühenden Wangen über ihrem Buch und konnte sich kaum mehr von ihm trennen.

Auch wenn sie im Garten zwischen den herrlichen, in vollster Blüte stehenden Magnolienbäumen dahin­schritt, war sie nicht mehr allein, die Gestalten, deren Schicksal sie ergriffen hatte, begleiteten sie und er­füllten ihr Gemüt mit Unruhe und Sehnsucht. Sie war in den Zauberkreis dieses Buches geraten, sie wußte nicht wie; eine Wanderlust überkam sie, der Wunsch, ihr geliebtes Elsaß, das Goethe mit so innigem Verständnis geschildert, von der Plattform des Münsters überschauen zu dürfen. Sie glaubte, die Unruhe, das Drängen und Sehnen in ihr wäre

dann gestillt, und bat ihren Vater um die Erlaubnis, ihre Tante Juliette in Straßburg besuchen zu dürfen. Monsieur Merkle hatte nichts dagegen einznwenden; vielleicht hätte er zu einer andern Zeit sich Gedanken darüber gemacht, was Ieanne wohl mit einemmal zu ihrer Tante trieb.

Die Schwester Monsieur Merkles, die sich nach dem Tode ihres Gatten nach Familienanschluß gesehnt hatte, hielt es nur ganz kurze Zeit in dem kleinen Fabrikstädtchen aus; die Langweile und das strenge Regiment ihres Bruders trieben sie schleunigst in ihr geliebtes Straßburg Zurück.

Ieanne besuchte ihre Tante zuweilen, diese kam auch zu ihr, allein das stille, zurückhaltende Mädchen und die derbe, überlaute Straßburger Bürgersfrau waren zu verschiedener Natur, als daß sie wohlthuend aufeinander hätten wirken können.

Trotzdem hingen sie aneinander, und die alte Dame schrie, daß man's durchs ganze Haus hörte, bei dem unverhofften Besuch der Nichte.

Ieanne verschlief mit Absicht am andern Morgen die Frühmesse, die ihre Tante regelmäßig zu be­suchen pflegte, um später ohne Begleitung in die zweite Messe gehen zu können.

Das junge Mädchen, das, französischer Sitte gemäß, sonst nie allein ausging, sah kein Arg darin, das wenige Schritte vom Hause ihrer Tante gelegene Münster allein zu besuchen. Sie machte sich auf den Weg, im Arm den Goetheband, der mit einem Umschlag versehen war, auf demUeeU ä'mm relio-ieu86" stand. Statt in die Messe zu gehen, bestieg sie die Plattform des Münsters. Dieses erste selbständige Unternehmen übte einen geheimnisvollen Reiz auf Ieanne ans; ihr war froh und doch auch wieder ängstlich zu Mute, als koste sie ein ver­botenes Vergnügen.

Sie stand endlich oben, atemlos. Der Wind spielte in ihrem Haar, ihre großen leuchtenden Augen schauten wie weltentrückt in die sonnenbeschienene Landschaft hinaus. Ja, das war noch alles so, wie sie es in dem Buche, das vor ihr auf der Brüstung lag, ge­lesen; diese unendliche Masse der kleinen Büche, die sich zwischen den hohen und niedrigen Bergen hin­durch schlängelten und blitzten und blinkten, wohin - das Auge sah, und das Helle mannigfaltige Grün längs der Ufer des mächtig dahinziehenden Rhein­stroms. Dort drüben lag der Schwarzwald

Ter Schwarzwald, die Vogcsc,

Sic sehn si srilndli an, , '

sagte sie halblaut vor sich hin, ^

E nachbarliches Wese

Nicht wahr, nicht wahr, mein Fräulein?" rief eine Stimme neben ihr.O, wie freue ich mich, diese treuherzigen Worte hier oben aus einem deutschen Munde zu hören!"

Und Ieanne, die erschreckt aufblickte, gewahrte einen alten, weißhaarigen Herrn, der ihr freundlich zunickte und dann die Hand über die Brüstung des Turmes ansstreckte mit den Worten:Wenn doch diese halsstarrigen Elsässer endlich ein Einsehen haben wollten!"

Da schoß dem jungen Mädchen eine heiße Blut-