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Ueber Lau
ich lasse ihr den Willen, ich bringe das Opfer — wäre mir dafür nicht das Schicksal eine Gegengabe schuldig — den Sohn? Nun, weiß der Himmel, es ist doch eine alte Regel: wer nicht locker läßt, gelangt Zum Ziel — und ich will mein Ziel erreichen, ich will mir meinen Sohn erobern?
Als in diesem Augenblick der Hanptmann auf ihn Zuschritt mit seinem warmen, herzlichen Blick, hatte der ganz in seine Betrachtungen versunkene Fabrikherr nur einen kurzen, förmlichen Händedruck für ihn; auch Jeaune verriet mit keinem Blick, mit keinem Wort, daß ihre Bekanntschaft älteren Datums sei als vom Tage selbst. Schämte sie sich vor ihren Freunden, den Hauptmann als Bekannten anzuerkennen? Fast schien es so; der Offizier stand einen Augenblick wie verlassen, eine heiße Blntwelle stieg ihm ins Gesicht, er warf einen kurzen Blick auf Jeanne und begab sich zu seinen Kameraden.
Jeanne aber kehrte bleich, im Innersten erregt, von dem Begräbnis des alten Hausfreundes zurück. Der liebenswürdige alte Herr war für sie eine nie versiegende Quelle des Trostes gewesen. Nun, an seinem Grabe hatte sie es doppelt stark empfunden, wie menschlich, wie wahr und schön das Band war, das ihn, den Franzosen, allen äußeren Verhältnissen zum Trotz, an den deutschen Hauptmann gefesselt hatte. Da war es ihr klar geworden, da gestand sie sich's rückhaltlos ein: Mas habe ich denn auf der Welt, wenn ich mich von dem Menschen trenne, der mir der Liebste ist, der Höchste, der Einzige?'
Und sie begriff nicht, warum sie es ihn: mit keinem Blick, mit keinem Wort gesagt, wie es um sie stand, als er ihr die Hand hinstreckte, als seine Angen die ihren suchten. Das war noch jene Scheu gewesen, die alte, kleinliche Scheu, die inan ihr anerzogen hatte, und die sie nicht los ließ. Wußte er denn nicht, wie groß die Macht der Erziehung war? Er kam nicht mehr ans Gitter, nicht einmal in seinem Garten war er mehr zu sehen; es war so still da drüben, wie ausgestorben. Jeanne floh die Ruhe, sie wußte sich nicht mehr zu helfen; hundertmal im Tage war ihr zu Mut, als müsse sie zum Gitter eilen und unter Thrünen und Schluchzen hinüber schreien: ,Nimm mich hinweg ans diesem toten Dasein, an dein lebendiges, warmes, liebevolles Herz?
Hatte er sie denn ganz vergessen, war es denn möglich nach all dem Verständnis, das er ihr gezeigt, daß er sie mit einemmal so ganz und gar sollte mißverstehen können?! Sie lag die Nächte wach, immer mit der einen Frage beschätigt: Mas kann ich thun? Was kann ich thunA Nein, sie wollte nicht still halten, sie wollte handeln. Von ihrem Vater, das wußte sie, hatte sie nichts mehr zu befürchten; der warb jetzt um die Liebe seines Sohnes und suchte ihn dem alten, einfältigen Mann abspenstig zu machen, an dem der junge Mensch mit unverbrüchlicher Treue sesthielt.
lind Jeanne sagte sich: ,Kommt er nicht mehr ans Gitter, nun, so suche ich ihn in seinen Bergen ans? — Sie stand längst mit Madame Gilbert, der Gärtnersfrau, im besten Einvernehmen; die wußte
d und Weer.
alles, was den Hauptmann nebenan betraf, was er vorhatte, und wohin er feine Schritte lenkte, wenn er im Lodenrock auszog. Jetzt wollte er auf den Belchen, und Jeanne war sofort entschlossen, sie wollte auch hinauf. Tante Juliette wurde aus Straßburg berufen, sie und der Kapitän sollten Jeanne begleiten; am Abend vor den: Ausflug wurde alles besprochen. Als die alte Dame ausrief: „Uf der Belche, eb bien oui, mnis mn sainto M6886 — dü weisch, i kann net si ohne Mine heilige Mess'" —, wußte Jeanne gleich dafür Rat: „Wir brechen so früh auf, daß wir zur Sechsuhrmesse in Murbach eintreffen."
Der Kapitän schwieg; ihm war nicht Wohl bei der Sache.
Der Morgen war wunderschön, als sie das Städtchen verließen; nach der kurzen Wagenfahrt kam der Aufstieg in dem schmalen Murbacher Thäl- chen, mit den stolzen Ueberresten seiner ehemals fürstlichen Abtei. Tante Juliette wohnte ihrer heiligen Messe bei, dann wurde der Weg fortgesetzt; die alte Dame und auch der Kapitän bestiegen einen Esel und trabten mit dem Führer voraus; Jeanne ging hinter ihnen drein.
Der Weg war sehr schmal; rechts und links türmten sich die Felsen auf; über den Häuptern der Dahinziehenden schlugen fast die Zweige der Bäume zusammen; ein murmelnder Bach floß unter dichten: Gestrüpp neben ihnen her.
Mit einemmal unterbrach ein lautes, durchdringendes Hundegebell die Stille dieses weltabgelegenen Winkels; der Kapitän erbleichte, Jeanne stand das Herz still, noch bevor Bijou erschienen war, der jetzt mit rasender Eile den Weg daher jagte und an dem Kapitän hinanfsprang.
„Eh, mit wem isch Ihr Handle do?" fragte Tante Juliette, „gut est eo Nonsiom-, der do vorne geht?"
„Es ist der Nachbar, der deutsche Hanptmann," kam es in gepreßtem Ton von des Kapitäns Lippen.
„So, e Tütscher?" sagte die alte Dame. „Sell thüt mi weniger geniere, als wenn's e Katzer war — ost-il Protestant?"
„Nein, er ist katholisch," beeilte sich Jeanne zu versichern.
la bonbeur!"
Der Hanptmann war stehen geblieben, nicht wenig erstaunt über die Gesellschaft, die er daherkommen sah. Er wurde vorgestellt, und man ging Zusammen weiter. Die beiden Herren quälten sich mit einer Unterhaltung über die Burgen des Elsasses; Tante Juliette warf manchmal einen französischen Brocken dazwischen; ihr waren die schönen Kirchen wichtiger.
Jeanne schwieg; es sah aus, als ginge nicht das geringste in ihr vor, so ruhig schritt sie einher. In Wahrheit aber war ihr die Kehle wie zusammengeschnürt; bald wurde ihr heiß, bald wurde ihr kalt; zuweilen kam es ihr vor, als sehe sie den Weg nicht mehr, als drehe sich alles mit ihr im Kreise herum, und eine Todesangst erfaßte sie, man könne ihren Zustand bemerken, an ihrem Gang, an ihrem Gesicht, an ihrem lauten, bangen Atemholen.