Die Aevisioilsreise.
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ganz in das Studium der Akten versunken. Nur Zuweilen horchte sie ans, wenn der alte Herr vor sich hinmurmelte: „Ist nicht übel" oder: „Hab' mir's schlimmer gedacht" oder: „Sein Gluck, daß die Sache in Ordnung ist!" Als er das letzte Aktenstück durchgelesen hatte, sagte er vor sich hin: „Hm, unzweiselhast ein ganz tüchtiger Mensch; schade, daß der hier so versumpft. Es ist nicht viel ausznsetzen, aber die Unpünktlichkeit will ich ihm denn doch unter die Nase reiben. Da hört denn doch die Gemütlichkeit aus!"
In diesem Augenblick klopfte es, und der Amtsrichter Stiebenbach trat ins Zimmer mit einer Schüchternheit, die nicht recht Zu seiner ansehnlichen Erscheinung passen wollte. Er stellte sich vor, bat um Entschuldigung, konnte aber die richtigen Worte nicht finden und blickte Emma, die vor Ueberraschung errötete, wie um Hilfe flehend an.
Emma stand ans, reichte ihm zur Verwunderung des Vaters die Hand und sagte stockend: „Lieber Papa, der Herr Amtsrichter hat mich aus einer schauderhaften Verlegenheit befreit. Denke dir, ich wurde da draußen bei den Anlagen, wo ich zeichnete, von ein paar wütenden Frauen geradezu ans- gcschimpft. Ich sollte einen Krug bezahlen, den die Kinder zerschlagen hatte!:, aber ich hatte keinen Pfennig bei mir, und da hat mir der Herr so bereitwillig ansgeholfen. Was haben Sie doch für mich ansgelegt, Herr Amtsrichter?"
Aber ich bitte Sie, mein gnädiges Fräulein," sagte Stiebenbach ansatmend, „ich konnte Sie doch nicht in den Händen dieser brutalen Weiber lassen."
„Was ist denn das nun wieder für eine Geschichte?" fuhr der Gerichtsrat unwillig dazwischen.
„Ja, es ist wahr, Papa; sie verlangten, ich sollte den Krug bezahlen — sie schrieen sogar schon nach der Polizei."
„Es ist da draußen ein verrufenes Viertel, Herr Landgerichtsrat," fuhr Stiebenbach fort; „wir haben mit dem Pack da unsre liebe Not."
„Gewiß habe ich Sie dadurch von Ihrem Bureau serngehalten, Herr Amtsrichter?" sagte Emma mit einem Blick, den Stiebenbach sogleich verstand.
„Leider, mein gnädiges Fräulein, kann ich das nicht in Abrede stellen. Ich wäre ohne diese Abhaltung wohl pünktlicher —"
Der Gerichtsrat räusperte sich ausfallend und schnitt ihm das Wort ab.
„Wir haben noch verschiedene amtliche Dinge zu erledigen, mein liebes Kind," sagte er zu Emma, „du gehst wohl so lange in dein Zimmer."
Emma ging und schloß die Thür. Sie hätte gern gelauscht, aber sie bezwang sich. Was hatte sie für ein Interesse an den Verhandlungen? Was ging sie im Grunde der Amtsrichter Stiebenbach an? Der arme Mensch, wie niedergeschmettert er da- gestandeu und wie ängstlich er sie angesehen hatte — und dann dieser Blick voll Dankbarkeit! Er war wirklich zu bemitleiden. Sie war ihm doch auch ein wenig Dank schuldig, sie mußte ihm doch auch das ausgelcgte Geld wiedergeben. Die Unterredung zwischen dem Landgerichtsrat und dem Amtsrichter
dauerte Ziemlich lange. Emma konnte die Neugierde nicht mehr bezähmen und legte das Ohr an die Thür. Der Vater sprach nicht heftig, wie sie gefürchtet hatte, sondern ruhig und behaglich.
Endlich verabschiedete sich der Amtsrichter.
„Ich freue mich," sagte der Vater, „daß ich zu Ihren Akten nur wenig Monika anzubringen in der Lage bin. Wenn es Ihnen genehm ist, können wir unten Zusammen zu Mittag speisen."
„Eine ganz besondere Ehre," antwortete der Amtsrichter freudig überrascht.
„Da können Sie mir dann auch die ,Geschichte vom zerbrochenen Krug'erzählen; ich meine nicht das Lustspiel von Heinrich von Kleist, sondern die Affaire mit meiner Tochter dahinten bei den Katen." —
Das Mittagessen war nicht besonders, obgleich der aufgeregte Wirt in der ganzen Stadt nmher- gerannt war, um allerhand Leckerbissen Zusammenzuholen. Aber der Rheinwein war gut, und so schwand unter seiner herzöffnenden Wirkung bald das etwas unbehagliche Verhältnis, das zwischen dem revidierenden und dem revidierten Beamten zu herrschen pflegt. Jede Revision ist immer eine Art Vivisektion; so geschickt und schnell sie auch ausgeführt werden mag, sie hinterläßt doch schmerzhafte Stellen.
Auch Stiebenbach litt noch unter den Nachwirkungen der Operation, bei dem Herrn Landgerichtsrat jedoch schwand bald der Heiligenschein der Unfehlbarkeit, mit dem sich Vorgesetzte zu umgeben pflegen, und rein menschliche Stimmungen zogen in seine Seele. Er wurde heiter, gesprächig, liebenswürdig, sprach von seiner Amtsrichterzeit und erzählte, wie er einmal als junger Richter in Karthaus revidiert werden sollte, und wie er den Revisor überredet hätte, statt Akten zu lesen, am nahen See angeln zu gehen.
Stiebenbach lebte wieder auf; das hatte er denn doch nicht riskiert.
„Na, stoßen wir mal an," rief der Herr Rat in heiterer Laune, „ich halte es auch Zuweilen mit dem Dorfrichter Adam und sage:
Mein Secl'! Es ist kein Grund, warum ein Richter,
Wenn er leicht auf dem Nichtstuhl sitzt,
Soll gravitätisch wie ein Eisbär sein?"
Alle lachten vergnügt, und während Stiebenbach die Gläser wieder schnell füllte, sprach er seine Bewunderung über die Belesenheit des Herrn Landgerichtsrats aus.
„Ja, glauben Sie nur, mein lieber Stiebenbach, ich habe während meiner ganzen Revision das Kleistsche Stück nicht aus dem Kops gekriegt; es hat mich mit seinen wunderlichen Gestalten überallhin verfolgt. Sie glauben ja gar nicht, wie froh ich bin, daß diese verdammte Revision hinter mir liegt. Muß den Präsidenten der Teufel reiten, daß er mir das Geschäft ausbürdete, zu dem ich passe wie ein Backtrog Zur Baßgeige — wahrhaftiger Gott! Ich bin ein harmloser Mensch, aber als Revisor muß man unter Umständen ein Satan sein, und das wird mir höllisch schwer. Gott, man kann es ja auch anders machen, nämlich wie mein