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Ueber Land und Meer.
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ein Gewirr von Stiegen und Treppen hinab und schritt, unten angekonunen, an den um diese Stunde noch leeren Tischen eines hier etablierten „Lokals" vorüber, unmittelbar auf das Schiff zu, dessen Glocke schon zum erstenmal geläutet hatte. Das Wetter war prachtvoll, flußaufwärts alles klar und sonnig, während über der Stadt ein dünner Nebel lag. Zu beiden Seiten des Hinterdecks nahm man auf Stühlen und Bänken Platz und sah von hier aus auf das verschleierte Stadtbild zurück.
„Da heißt es nun immer," sagte Melusine, „Berlin sei so kirchenarm; aber wir werden bald Köln und Mainz aus dem Felde geschlagen haben. Ich sehe die Nikolaikirche, die Petrikirche, die Waisenkirche, die Schloßkuppel, und das Dach da, mit einer Art von chinesischer Deckelmütze, das ist, glaub' ich, der Rathausturm. Aber freilich, ich weiß nicht, ob ich den mitrechnen darf."
„Turm ist Turm," sagte die Baronin. „Das fehlte auch gerade noch, daß man dem armen alten Berlin auch noch seinen Rathausturm als Turm abstritte. Man eifersüchtelt schon genug."
Und nun schlug es vier. Von der Parochial- kirche her klang das Glockenspiel, die Schiffsglocke läutete dazwischen, und als diese wieder schwieg, wurde das Brett ausgeklappt, und unter einem schrillen Pfiff setzte sich der Dampfer auf das mittlere Brückenjoch zu in Bewegung.
Oben, in Nähe der Jannowitzbrücke, hielten immer noch die beiden herrschaftlichen Wagen, die's für angemessen erachten mochten, ehe sie selber aufbrachen, zuvor den Aufbruch des Schiffes abzuwarten, und erst als dieses unter der Brücke verschwunden war, fuhr der gräflich Barbysche Kutscher neben den freiherrlich Berchtesgadenschen, um mit diesem einen Gruß auszutauschen. Beide kannten sich seit lange, schon von London her, wo sie bei denselben Herrschaften in Dienst gestanden hatten. In diesem Punkte waren sie sich gleich, sonst aber so verschieden wie nur möglich, auch schon in ihrer äußeren Erscheinung. Imme, der Barbysche Kutscher, ein ebenso martialisch wie gutmütig dreinschauender Mecklenburger, hätte mit seinem angegrauten Sappeurbart ohne weiteres vor eine Gardetruppe treten und den Zug als Tambonrmajor eröffnen können, während der Berchtesgadensche, der seine Jugend als Trainer und halber Sportsman zugebracht hatte, nicht bloß einen englischen Namen führte, sondern auch ein typischer Engländer war, hager, sehnig, kurz geschoren und glatt rasiert. Seine Glotzaugen hatten etwas Stupides; er war aber trotzdem klug genug und wußte, wenn's galt, seinem Vorteil nachzugehen. Das Deutsche machte ihm noch immer Schwierigkeiten, trotzdem er sich aufrichtige Mühe damit gab und sogar das bequeme Zuhilsenehmen englischer Wörter vermied, am meisten dann, wenn er sich die Berlinerinnen seiner Bekanntschaft abquälen sah, ihm mit „nell, Nr. Robinson" oder gar mit einem geheimnisvollen „inäosä" zu Hilfe zu kommen. Nur mit dem einen war er einverstanden, daß man ihn „Mr. Robinson" nannte. Das ließ er sich gefallen.
Mmv, Nr. Robinson," sagte Imme, als sie Bock an Bock nebeneinander hielten, .,bon uro xou? I boxe (Mts noll."
„Danke, Mr. Imme, danke! Was macht die Frau?"
„Ja, Robinson, da müssen Sie, denk' ich, selber Nachsehen, und zwar gleich heute, wo die Herrschaften fort sind und erst spät wiederkommen. Noch dazu mit der Stadtbahn. Wenigstens von hier aus, Jannowitzbrücke. Sagen wir also neun; eher sind sie nicht zurück. Und bis dahin haben wir einen guten Skat. Hartwig als dritter wird schon kommen; Portiers können immer. Die Frau zieht ebenso gut auf wie er, und weiter is es ja nichts. Also Klocker fünf; ein ,Neiw gilt nicht; vvbere tbore is a nill, tllero is a Ein bißchen is doch noch hängen ge
blieben von äear- olä RnZIanä."
„Danke, Mr. Imme," sagte Robinson, „danke! Ja, Skat is das Beste von all Eorman)'. Komme gern. Skat ist noch besser als Bayrisch."
„Hören Sie, Robinson, ich weiß doch nicht, ob das zutrifft. Ich denke mir, so beides zusammen, das ist das Wahre. Rbat's it."
Robinson war einverstanden, und da beide weiter nichts auf dem Herzen hatten, so brach man hier
ab und schickte sich an, die Rückfahrt in einem mäßig raschen Trab anzutreten, wobei der Berchtesgadensche Kutscher den Weg über Molkenmarkt und Schloßplatz, der Barbysche den aus die Neue Friedrichsstraße nahm. Jenseits der Friedrichsbrücke hielt sich der letztere dicht am Wasser hin und kam so am bequemsten bis an sein Kronprinzenufer.
Der Dampfer, gleich nachdem er das Brückenjoch passiert hatte, setzte sich in ein rascheres Tempo, dabei die linke Flußseite haltend, so daß immer nur eine geringe Entfernung zwischen dem Schiff und den sich dicht am User hinziehenden Stadtbahnbögen war. Jeder Bogen schuf den Rahmen für ein dahinter gelegenes Bild, das natürlich die Form einer Lünette hatte. Mauerwerk aller Art, Schuppen, Zäune zogen in buntem Wechsel vorüber, aber in Front aller dieser der Alltäglichkeit und der Arbeit dienenden Dinge zeigte sich immer wieder ein Stück Gartenland, darin ein paar verspätete Malven oder Sonnenblumen blühten. Erst als man die zweit- solgende Brücke passiert hatte, traten die Stadtbahnbögen so weit Zurück, daß von einer Usereinsassung nicht mehr die Rede sein konnte; statt ihrer aber wurden jetzt Wiesen und pappelbesetzte Wege sichtbar, und wo das User quaiartig abfiel, lagen mit Sand beladene Kähne, große Zillen, aus deren Innerem eine baggerartige Vorrichtung die Kies- und Sandmassen in die dicht am Ufer hin etablierten Kalkgruben schüttete. Es waren dies die Berliner Mörtelwerke, die hier die Herrschaft behaupteten und das Uferbild bestimmten.
Unsre Reisenden sprachen wenig, weil unter dem raschen Wechsel der Bilder eine Frage die andre zurückdrängte. Nur als der Dampfer an Treptow vorüber zwischen den kleinen Inseln hinfuhr, die hier mannigfach aus dem Fluß auswachsen, wandte sich Melusine an Woldemar und sagte: „Lizzi hat mir erzählt, hier zwischen Treptow und Stralau sei auch die ,Liebesinsel'; da stürben immer die Liebespaare, meist mit einem Zettel in der Hand, drauf alles stünde. Trifft das zu?"
„Ja, Gräfin, soviel ich weiß, trifft es zu. Solche Liebesinseln giebt es übrigens vielfach in unsrer Gegend und kann als Beweis gelten, wie weitverbreitet der Zustand ist, dem abgeholfen werden soll, und wenn's durch Sterben wäre."
„Das nehm' ich Ihnen übel, daß Sie darüber spotten. Und Armgard wird es noch mehr thun, weil sie gefühlvoller ist als ich. Zudem sollten sie wissen, daß sich so was rächt."
„Ich weiß es. Aber Sie lesen auch durchaus falsch in meiner Seele. Sicher haben Sie mal gehört, daß der, der Furcht hat, zu singen anfängt, und wer nicht singen kann, nun, der witzelt eben. Uebrigens, so schön ,Liebesinsel' klingt, der Zauber davon geht wieder verloren, wenn Sie sich den Namen des Ganzen hier vergegenwärtigen. Das sich so mächtig hier verbreiternde Spreestück heißt der ,Rummelsburger' See."
„Freilich nicht hübsch; das kann ich zugeben. Aber die Stelle selbst ist schön, und Namen bedeuten nichts."
„Wer Melusine heißt, sollte wissen, was Namen bedeuten."
„Ich weiß es leider. Denn es giebt Leute, die sich vor Melusine' fürchten."
„Was immer eine Dummheit, aber doch mehr noch eine Huldigung ist."
Unter diesem Gespräche waren sie bis über die Breitung der Spree hinaus gekommen und fuhren wieder in das schmaler werdende Flußbett ein. An beiden Ufern hörten die Häuserreihen auf, sich in dünnen Zeilen hinzuziehen, Baumgruppen traten in nächster Nähe dafür ein, und weiter landeinwärts wurden ausgeschüttete Bahndämme sichtbar, über die hinweg die Telegraphenstangen ragten und ihre Drähte von Pfahl zu Pfahl spannten. Hie und da, bis ziemlich weit in den Fluß hinein, stand ein Schilfgürtel, aus dessen Dickicht vereinzelte Krickenten aufflogen.
„Es ist doch weiter, als ich dachte," sagte Melusine. „Wir sind ja schon wie in halber Einsamkeit. Und dabei wird es frisch. Ein Glück, daß wir Decken mitgenommen. Denn wir bleiben doch Wohl im Freien? Oder giebt es auch Zimmer da? Freilich kann ich mir kaum denken, daß wir zu sechs in einem Eierhäuschen Platz haben."
„Ach, Frau Gräfin, ich sehe, Sie rechnen auf etwas extrem Idyllisches und erwarten, wenn wir angelangt sein werden, einen Mischling von Kiosk und Hütte. Da harrt Ihrer aber eine grausame Enttäuschung. Das Eierhäuschen ist ein sogenanntes ,Lokal', und wenn uns die Lust anwandelt, so können wir da tanzen oder eine Volksversammlung abhalten. Raum genug ist da. Sehen Sie, das Schiff wendet sich schon, und der rote Bau da, der zwischen den Pappelweiden mit Turm und Erker sichtbar wird, das ist das Eierhäuschen."
„O weh! Ein Palazzo," sagte die Baronin und war auf dem Punkt, ihrer Mißstimmung einen Ausdruck zu geben. Aber ehe sie dazu kam, schob sich das Schiff schon an den vorgebauten Anlegesteg, über den hinweg man, einen Userweg einschlagend, auf das Eierhäuschen zuschritt. Dieser Userweg setzte sich, als man das Gartenlokal endlich erreicht hatte, jenseits desselben noch eine gute Strecke fort, und weil die wundervolle Frische dazu einlud, beschloß man, ehe man sich im „Eierhäuschen" selber niederließ, zuvor noch einen gemeinschaftlichen Spaziergang am User hin zu machen. Immer weiter flußaufwärts.
Der Enge des Weges halber ging man zu zweien, vorauf Woldemar mit Melusine, dann die Baronin mit Armgard. Erheblich zurück erst folgten die beiden älteren Herren, die schon aus dem Dampfschiff ein politisches Gespräch angeschnitten hatten. Beide waren liberal, aber der Umstand, daß der Baron ein Bayer und unter katholischen Anschauungen ausgewachsen war, ließ doch beständig Unterschiede hervortreten.
„Ich kann Ihnen nicht zustimmen, lieber Gras. Alle Trümpfe heut, und zwar mehr denn je, sind in des Papstes Hand. Rom ist ewig und Italien nicht so fest ausgebaut, als es die Welt glauben machen möchte. Der Quirinal zieht wieder aus, und der Vatikan zieht wieder ein. Und was dann?"
„Was dann? Nichts, lieber Baron. Auch dann nicht, wenn es wirklich dazu kommen sollte, was, glaub' ich, ausgeschlossen ist."
„Sie sagen das so ruhig, und ruhig ist man nur, wenn man sicher ist. Sind Sie's? Und wenn Sie's sind, dürfen Sie's sein? Die letzten Entscheidungen liegen immer bei dieser Papst- und Rom-Frage."
„Lagen einmal. Aber damit ist es gründlich vorbei, auch in Italien selbst. Die letzten Entscheidungen, von denen Sie sprechen, liegen heutzutage ganz wo anders, und es sind bloß ein paar Ihrer Zeitungen, die nicht müde werden, der Welt das Gegenteil zu versichern. Alles bloße Nachklänge. Das moderne Leben räumt erbarmungslos mit all dem Ueberkommenen aus. Ob es glückt, ein Nilreich aufzurichten, ob Japan ein England im Stillen Ozean wird, ob China mit seinen vierhundert Millionen Einwohnern aus dem Schlaf aufwacht und, seine Hand erhebend, uns und der Welt zürnst: ,Hier bin ich', allem voraus aber, ob sich der vierte Stand etabliert und stabiliert (denn darauf läuft doch in ihrem vernünftigen Kern die ganze Sache hinaus) — das alles fällt ganz anders ins Gewicht als die Frage ,Quirinal oder Vatikan'. Es hat sich überlebt. Und anstaunenswert ist nur das eine, daß es überhaupt noch so weiter geht. Das ist der Wunder größtes."
„Und das sagen Sie, der Sie zeitweilig den Dingen so nahe gestanden?"
„Weil ich ihnen so nahe gestanden."
Auch die beiden voranschreitenden Paare waren in lebhaftem Gespräch.
An dem schon in Dämmerung liegenden östlichen Horizont stiegen die Fabrikschornsteine von Spindlers- selde vor ihnen aus, und die Rauchfahnen zogen in langsamem Zuge durch die Luft.
„Was ist das?" fragte die Baronin, sich an Woldemar wendend.
„Das ist Spindlersselde."
„Kenn' ich nicht."
„Doch vielleicht, gnädigste Frau, wenn Sie hören, daß in eben diesem Spindlersselde der für die weibliche Welt so wichtige Spindler seine geheimnisvollen Künste treibt. Besser noch seine verschwiegenen. Denn unsre Damen bekennen sich nicht gern dazu."
„So, der! Ja, dieser unser Wohlthäter, den wir — Sie haben ganz recht — in unserm Undank so gern