Heft 
(1898) 09
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öffnete und schloß Fächer und Kästen, alles ohne Hast und Uebereilung, mit einer schönen, stillen Sicherheit, einer sanften, weichen Grazie, die dem Ange wohlthat.

Dann hörte er auch ihre Stimme wieder, und die kurzen, geschäftlichen Fragen und Antworten klangen aus ihrem Munde nicht einmal trivial. Immer lag das Interesse, das sie der einfachsten Sache entgegenbrachte, ihr Wunsch, die Leute zu befriedigen, ihre persönliche Liebenswürdigkeit darin und erhob alles. Er glaubte und verstand es wohl, daß sie eifrigen Zuspruch hatte, und daß besonders die Schulkinder ihr gern alle ihre Groschen für Federn und Hefte und Bleie und Zeichenpapier ins Haus trugen. Sie hatte so etwas Warmes, Mütterliches.

Ein wenig blaß sah sie aus und abgespannt in ihrem dunkeln Kleide, nachdem sie so den ganzen Tag auf den Füßen gewesen war. Das blonde Haar trug sie glatt gescheitelt, die schöne, hohe Stirn frei. Immer hatte er gefunden, daß sie der Hol- beinschen Madonna des Bürgermeisters Meyer gliche in ihrer schlichten, innigen Weiblichkeit. Diese Ähn­lichkeit war jetzt noch viel vollkommener geworden.

Ein kleiner Bursche in einem armseligen Wäms- lein hatte lange und unschlüssig in einem Stoß Bilderbogen gewühlt, die sie ihm vorgelegt. Nichts von der Neu-Ruppiner Herrlichkeit schien ihm würdig genug des Preises, den er krampfhaft mit den roten, schmutzigen Fingern umschlossen hielt.

Endlich wandte sich Johanna wieder an ihn. Sie beugte sich hinüber, strich ihm sanft über das struppige Haar und brachte durch freundliche Fragen heraus, daß esSoldaten" undder Kaiser" seien, wonach sein Herz stand.

Sie, ein Zimmermannsblei wollt' ich," brummte jetzt der Baß eines jungen, stämmigen Gesellen, der sich augenscheinlich zurückgesetzt fühlte gegen den kleinen Patrioten.Ich steh' hier schon 'ne ganze Weile, Madam. So viel Zeit Hab' ich nicht."

Ruhig hob Johanna die dunkelgrauen Augen. Es geht nach der Reihe," sagte sie;der Kleine war eher da." Sie legte dem Gesellen das Ge­wünschte vor. Er wählte, kramte, schien sich so recht im Uebergewicht zu fühlen in seiner Breite und Muskelkraft dieser schmächtigen Frau gegenüber. Eine Weile murmelte er noch allerlei in den Bart. Dann bezahlte er und ging. Auch der Kleine, den: Johanna noch einige Abziehbilder in die Hand ge­drückt hatte, opferte seinen Nickel und zog in einer- trunkenen Glückseligkeit ab.

Jetzt war die Reihe an Karl. Er trat heran und grüßte. Er hatte sich einen Scherz ausgedacht während des Wartens. Ihr kamen den Tag über so viel fremde Gesichter vor. Ob sie ihn wohl er­kennen würde mit seinem blonden Vollbart, in seinem leichten Embonpoint?

Sie wünschen?" fragte sie höflich.

Schreibpapier haben Sie Wohl in guter Sorte?"

Sie stutzte, sah ihn scharf an, schien ihrer Sache noch nicht ganz sicher.O gewiß" sagte sie dann zögernd.

Sie wandte sich um, kramte eine Weile wie unschlüssig in allerlei Schubfächern herum Karl schien's, als wenn ihre schlanken, bläulich-weißen Hände leise zitterten und plötzlich kehrte sie ihn: ihr Gesicht zu und sah ihn fest und mutig an.

Ja, Sie sind's," sagte sie und wurde schnell hintereinander blaß und rot.Aber ich hätte Sie nicht erkannt, wenn mir Hubert nicht gesagt hätte ..."

Er reichte ihr über den Ladentisch die Hand. Ja, ich bin's," sagte er.Ich habe mich also ver­ändert?"

Sie lachte, und nun stand auf einmal die ganze innige Heiterkeit auf ihrem Gesicht, die er auf ihrem Bilde so bewundert hatte.Wissen Sie denn nicht mehr Ihren Kneipnamen? .Sardelle' das paßt doch nicht mehr auf Sie? Aber nicht wahr, mit dem Einkauf hat's keine Eile? . . . Bitte, treten Sie näher..."

Sie schlug eine Klappe des Ladentisches zurück und ließ ihn durch diese Passage in den schmalen Gang eintreten. Dann öffnete sie eine Glasthür, bat ihn, im Wohnzimmer Platz zu nehmen, und huschte, da im Augenblick die Glocke ertönte, mit einer schnellen Entschuldigung in den Laden zurück.

Karl Wedekind atmete auf. Gott sei Dank, jetzt hatte er Zeit, ins Gleichgewicht zu kommen!

Ueöer Land und Meer.

Im ersten Moment war's ihm peinlich gewesen, sieFräulein Johanna" zu nennen. Ueberall stand das Geschehene spitz, stachelig, verfänglich zwischen ihnen. Ueberall fürchtete er anzustoßen, sie zu ver­letzen, zu beschämen.

Aber noch einmal Gottlob! sie war ja gar nicht die zerknirschtebüßende Magdalena"! Ihre Ruhe und Sicherheit ging wohlthätig in ihn über. Voll Interesse sah er sich in dem Zimmerchen um, in dem alles anheimelnd war, sauber, gepflegt. Möbel und Dielen glänzten wie Kastanien, die eben aus der stacheligen Hülle gesprungen sind. Die Lampe auf dem runden Tisch brannte mit reinem goldigen Licht. Die weiße Decke, die über den Tisch gebreitet war, schien eben frisch gestärkt und geplättet. Ein Sträußchen von Reseda und Veilchen stand in einer Vase von blauem Glase und duftete süß nach Frühling. Irgendwo mußten auch Aepfel stehn. Richtig, in der Porzellanschale auf dem Vertiko! Und nun wurde ihm alles auf einmal wieder ganz vertraut. Das waren ja die alten Göttinger Möbel, die ihre Mutter mit ii: die Ehe gebracht und ihr vererbt hatte.

Nichts verriet den großen Wechsel in ihrem Leben, nichts das Dasein eines Kindes. Ja, doch: dort in der Fensterecke der kleine Tisch mit dem Stühlchen davor, die paar bescheidenen, wohlgeordneten Spiel­sachen.

Karl Wedekind that die Augen fort und mußte doch wieder Hinblicken. Wie hübsch das war, das Winkelchen! Wie's das Stübchen erst gemütlich machte!

Nun fiel ihm auf einmal Huberts ödes Zimmer ein. Da begriff er's, daß dieser Stimmungsmensch, der bei aller Kraft und Schroffheit doch weich und liebebedürftig und Zärtlichkeit-Heischend war wie ein Kind, diesen warmen, sicheren Schlupfwinkel brauchte, um sein hartes Kampfleben zu ertragen.

Nur wunderte er sich wie die Sachen ein­mal lagen, daß er so weit ab von diesem fried­lichen Nest sich einquartiert hatte. Es war ja bei­nahe eine Tagreise bis hierher. Wie selten konnte er sie sehen!

Da ging die Klingel wieder. Er hörte, daß die Thür geschlossen und die Rolljalousie herabgelassen wurde. Dann trat Johanna ein und bat ihn, da er noch in seinem dicken Ueberzieher saß, abzulegen.

Während er es that und sie ihm behilflich war, den schweren Rock an einem Riegel an der Thür aufzuhängen, sagte sie heiter:Sie haben Glück. Heut abend, hoff' ich, wird Hubert kommen."

Kommt er denn nicht täglich?" fragte er, sich wieder setzend.

Ach nein," ein Schatten flog über ihr Gesicht er hat so selten Zeit."

Arbeitet er denn den ganzen Tag?"

Wie es kommt, je nach der Stimmung, lieber Herr Doktor. Und damit ist's unberechenbar. Aber wenn er lange nicht hier war, so weiß ich wenigstens: er ist im Zuge, es glückt ihm. Und dann wie sehr ich ihn auch entbehre, bin ich doch froh."

Wenn er dann wiederkommt, ist er wohl sehr vergnügt?"

Sie hatte sich ihm gegenübergesetzt und sogleich eine Handarbeit vorgenommen, einen kleinen, rosigen Wollstrumpf.Vergnügt?" sagte sie aufsehend, nach­dem sie bedächtig eine sinkende Masche aufgefangen hatte,Sie kennen ja Hubert. Immer nur seine Arbeit. Und nie zufrieden mit sich. Lieber Gott, das ist wie ein ewiges Feuer, ein innerer Vulkan. Mir ist manchmal, als erlebe ich einen Bergsturz, oder einen Gewittersturm, oder sonst was Großes, ein Naturereignis . . . Man zittert und bebt förmlich. Von ,Vergnügtsein' ist da nicht viel die Rede." Sie lächelte.Aber darauf kommt's ja auch nicht an. Wenn ich ihm nur alles vom Halse halten könnte, Aerger und Sorgen. . . Das quält ihn ja tausendmal mehr wie andre Menschen..."

Natürlich."

Ich bin schon froh, daß er mich manchmal das Abschreiben besorgen läßt oder das Korrekturlesen..."

Dazu finden Sie auch noch Zeit, Fräulein Johanna?"

Mit leisem Schreck bemerkte er, daß sie bei dieser Anrede errötet war und stumm und eifrig fortstrickte.

Bitte, Herr Doktor," sagte sie nach einer Weile leise,nennen Sie mich doch nicht ,Fräulein'. Ich

komme mir gar nicht wie ein ,Fräulein' vor als Felixens Mutter."

Er verneigte sich.Verzeihen Sie," murmelte er verlegen. Eine kurze Pause entstand, in der er nur die Nadeln eifrig klappern hörte. Dann sagte sie ruhig:Und Sie sind fort von: Gericht, Herr- Doktor? Damals in Göttingen hatten Sie Lust, zur Staatsanwaltschaft zu gehn, nicht wahr?"

Jawohl. Aber, sehn Sie. . . ich Hab' in der Praxis ein paar Fälle erlebt... nein! Solange wir so im Dunkeln tappen, fühl' ich mich zum An­kläger nicht berufen."

Sie nickte ihm herzlich zu.Wenn man der: Menschen doch in die innerste Herzkammer hinein- leuchten könnte," scherzte sie.Und da wollen Sie also Rechtsanwalt werden?"

Ja. Ich denke, das liegt mir besser. An Leuten, die mit wahren: Vergnügen und streng nach dem Buchstaben die Böcke herausspüren und ans Messer liefern, damit die brave Herde der Wohl­habenden und deshalb Wohlgesinnten ungestört weiden und Wiederkäuen kann an denen ist ja kein Mangel."

Nein," murmelte sie, und ihr freundliches Gesicht verfinsterte sich;angeklagt und verurteilt wird einer schnell. Jeder glaubt ja lieber das Böse vom andern."

Und, sehn Sie, ich gehöre zu den komische:: Käuzen, die sich einbilden, die meisten Menschen wären lieber gut als schlecht, wenn sie nur dürften. Einfach, weil ,glücklich' und ,gut sein', das heißt nach den Gesetzen der Natur und der Gesellschaft leben, für mich ein und dasselbe ist."

Ja," stimmte sie Zu,es wird ja manchem geradezu unmöglich gemacht, sich durchs Leben zu schlagen, ohne daß seine Nachbarn rechts und links Püffe und Stöße abkriegen. Wenn man weiß, wie die armen Leute oft leben . . . eingepfercht wie die Heringe, manchmal keinen Bissen Brot im Haus, und jeder schnauzt sie an und nutzt ihre Not aus da ist's ja kein Wunder, wenn sie sich mit Gewalt nehmen, was ihnen freiwillig keiner giebt. Ein bißchen Glück, ein bißchen Wohlleben will doch jeder haben. Gott! Und oft die kleinen Vergehen und die harten Strafen!"

Er merkte, sie sprach für sich selber, indem sie eine allgemeine Bemerkung auszusprechen schien. Arme Mimose, dachte er, was magst du ausgehalten haben!

Strafen!" rief er.Ja, das ist auch so ein Kapitel. Wir sind allzumal Sünder! Ueberhaupt der, den die Strafe bessern würde, bei dem ist sie eigentlich überflüssig. Bei dem wär' ein Erlaß seiner Strafe viel wirksamer."

Und einer, bei dem sie nutzlos ist," warf sie mit traurigem Lächeln ein,wozu packt man sie dem auf?"

Ganz recht!" rief er, erfreut über ihr Ver­ständnis.Und sehn Sie, Johanna, wenn ich's nur einer Handvoll erspare, als ,Gebrandmarkte' herum­zulaufen, wie mit einem Stein um den Hals"

Johanna erhob sich und reichte ihm die Hand. Sie sind ein guter Mensch," sagte sie herzlich.

Im Nebenzimmer rief ein verschlafenes Sümm­chen:Mama!"

Da ist er doch wach, der Schelm," sagte Jo­hanna lächelnd.Er ist vorher über seinem Süppchen eingeschlafen. Sie müssen schon entschuldigen. Die Milch steht noch auf dem Feuer. Ein Viertel­stündchen, und das Kerlchen ist abgefüttert und

schläft Wieder." (Fortsetzung folgt.)

Lasset die Kinötem M wir kommen!

Ä^Aon allen Reformbestrebungen unsrer reformsüchtigen Zeit, TW der es mit einem Male an allen Ecken und Enden zu eng geworden ist, begegnet wohl keine unter den werkthätigen Förderern und Helfern so vielen und warmen Sympathien wie diejenige, die auf eine Umgestaltung und Erneuerung der geistigen Nahrung für die Jugend gerichtet ist. Es giebt sogar viele Enthusiasten, die in der geistigen Heranbildung und Entwicklung der Jugend durch einen sorgfältig ausgewählten Anschaunngs- und Lesestoff geradezu das sicherste Mittel zur Lösung der sozialen Frage auf friedlichem Wege erblicken, und wenn erfahrene Sozialpolitiker auch über diese optimistische Auffassung von der Zerstörungskraft finsterer Gewalten lächeln werden, so