Heft 
(1898) 09
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Weber Land und Meer.

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darf in einer Zeit, wo alle, selbst die stärksten Mittel ver­sagt haben, doch auch ein Versuch mit einem Mittel ge­macht werden, das sich sanft und mild? den Augen und Ohren von Kindern einschmeichelt, die durch Verwahrlosung, Not, häusliches Elend oder vielleicht gar barbarische Be­handlung mißtrauisch und störrisch geworden sind. Selbst in der ärgsten Not jauchzt ein Kindergemüt fröhlich auf, wenn ein buntes Bild gezeigt oder eine schlichte Erzählung vorgetragen wird, die dem kindlichen Sinn verständlich ist.

Die Begierde des Kindes nach einem bunten Schau­gericht ist allmählich durch die Vermehrung der Arbeiter­bevölkerung in den großen Handels- und Fabrikstädten so lebhaft geworden, daß dunkle Jndustrieritter auf den Ge­danken gekommen sind, durch Massenproduktion von Schund­waren jene Begierde zu befriedigen. Durch allerlei Kanäle, die sich den Augen der Öffentlichkeit entziehen, durch die Vermittlung gewinnsüchtiger Schreibwarenhändler gelangen Erzeugnisse verächtlicher Litteraten und Zeichner in Millionen von Exemplaren in die Hände der Schuljugend, deren Empfindlichkeit dadurch frühzeitig abgestumpft und später durch edle Werke des Kunst- und Buchverlags nicht mehr geweckt werden kann.

Die Reform in der Jugendliteratur richtet sick aber nicht allein gegen die Massen vergiftender Schundproduktion, sondern auch gegen die Künstler, Schriftsteller und Ver­leger, die den Augen der kleinen und großen Jugend alles hübsch, gefällig und anmutig präsentieren wollen und der Meinung sind, daß die Schule des Lebens zu vollenden- habe, was in der Lehrerschule zu lernen versäumt worden ist. Aber auch gegen diese optimistische Ansicht, die wir durchaus nicht verwerfen möchten, wendet sich jetzt eine Opposition, die ebenfalls viel zu ihren Gunsten Vorbringen kann. Den Kindern sollen schon, sobald ihr Beobachtungs­trieb erwacht ist, die Augen für ihre Umgebung geöffnet werden, und wenn man sie auch vor dem Häßlichen und Schlechten möglichst hüten muß, soll mau ihnen die Wahr­heit nicht geflissentlich vorenthalten und ihnen nicht einen schönen Schein vorspiegeln, nach dem eine Enttäuschung desto schmerzlicher wirkt.

Die Wahrheit in der Kunst!" lautet jetzt die Parole, die von vielen Seiten für die innere und äußere Gestaltung unsrer Jugendschriften ausgegeben wird, und einer der ersten, die sie sich zu eigen gemacht haben, ist der Verlags- bnchhändler I. A. Steinkamp in Duisburg, der sich ver­bunden hat mit Eduard Kaempffer, einem der Düssel­dorfer Schule entsprossenen Künstler, den wir feit Jahren als einen Geschichts- und Genremaler von gesundem Realis­mus uud inuiger Wahrheitsliebe schätzen. Als Genremaler hat er sich besonders in Schilderungen aus dem Kinder­leben hervorgethan, und die Kinder stellt er auch in den Vordergrund seiner Kompositionen, die er unter dem Leitwort des EvangeliumsLasset die Kindlein zu mir kommen," zu einer wahrhaft herzerquickenden und er­frischenden Festgabe für christliche Familien beider Bekennt­nisse zusammengefaßt hat. Auf dreizehn Bildern, die mit feinem Gefühl für die Grenzen der lithographischen Technik und für das Kindern koloristisch Zuträgliche in Farbendruck ausgeführt worden sind, und in einer Reihe von farblosen Textillustrationen und Randverzierungen führt er den Kleinen das Erdenwallen des Heilandes von der Verkündigung an die Hirten bis zur Himmelfahrt vor Augen, immer be­müht, das Dogmatische und Uebersinnliche fernzuhalten und nur das dem Kindergemüt leicht Faßliche zum Gegenstand seiner Darstellungen zu machen, die sich ebensosehr von süßlich-sinnlicher Schönfärberei wie vom grob Naturalistischen der modernen Schule fern halten. Es ist, als ob ein starker Strom vom Geiste Dürers und Cranachs auf den Künstler übergegangen fei; denn trotz des orientalischen Grundcharakters der Bilder weht uns aus ihnen der warme Hauch echt deutschen Empfindens, traulich deutschen Familien­lebens entgegen. Die junge Mutter mit dem lieblichen Wunder im Schoß, der kleine und der große Heiland und die sorglos-frohen Kinder, die sich voll von zärtlicher Liebe an den väterlichen Freund schmiegen oder ihm bei seinem Ein­zug in Jerusalem blumenstreuend den Weg bahnen, sie alle sind echt deutsche Blondköpfe, die uns heimisch­vertrauten Gesichtes anlächeln. Alle tragen aber einen individuellen Zug, der darauf hinweist, daß der Künstler mit vollen Händen aus der ihn umgebenden Natur geschöpft hat. Auch die begleitenden Erzählungen in Prosa und Versen von C. Steinkamp, die sich eng an die Evangelien schließen, sind von demselben Geiste schlichter Wahrheit er­füllt, so daß sich Bilder und Text zu jener echten Har­monie verschmelzen, die erst das Gepräge eines wirklichen Kunstwerkes ausmacht. Adolf Rosenberg.

Die pariser AerussöeLtler.

Eugen v. Aagorv.

ie Bettelei kann in Frankreich, wie in andern Ländern auch, erst wirksam bekämpft werden, wenn die gesellschaftliche Organisation so weit vervollkommnet ist, daß allen Arbeitslosen sofort Arbeit geschafft wird, daß alle Arbeitsunfähigen, Kranke, Kinder und Greise, jederzeit versorgt sind. Hat man auf diese Weise die Arbeits­

unlustigen, die von Richepin und ähnlichen Dichtern ver­herrlichten Landstreicher von den wirklich Hilfsbedürftigen, deren Schmarotzer sie so recht eigentlich sind, abgesondert, so wird es sehr leicht sein, dem Bernfsbettlertum den Garaus zu machen. Der eins Teil wird ins Irrenhaus geschickt werden, der andre durch Verweigerung von Al­mosen und durch sonstige Zwangsmittel zur Arbeit an­gehalten werden. Eine der Hauptursachen der Arbeits­unlust und des Familienelends ist überdies der Alkoholismns, dessen Statistik den Franzosen unter den Völkern Europas bereits den wenig beneidenswerten zweiten Platz anweist. Seine energische Bekämpfung wird zur Verwirklichung des von Jahrhundert zu Jahrhundert vererbten Idealskeine Bettler mehr!" am meisten beitragen. Doch einstweilen ist der Berufsbettler in Frankreich, und zumal in Paris, eine Thatsache, mit der man rechnen muß. Er ist, wie ich schon hervorhob, recht eigentlich der schamlose Schmarotzer der verschämten Armen.

Bevor ich mich mit den verschiedenen Masken und Kniffen des Berufsbettlers beschäftige, zunächst einige Worte über feineZunft" und deren Einrichtung. Das ist in der That vielleicht die einzige Zunft, die es in Frankreich noch giebt, mit felbstauferlegten Satzungen, die beispielsweise das Recht verleihen, nicht nur nicht befugte, das heißt nicht be­rufsmäßige, sondern sogar berufsmäßige Bettler vom Betriebe des edelu Gewerbes in ihrem Bezirk, beispielsweise vor dieser oder jener Modekirche, auszuschließen. Eine Uebertretung jener Satzungen ist viel seltener als die des siebenten Ge­botes und wird von den Geschädigten und deren Geschäfts­freunden alsbald mit der Krücke oder andern gefährlichen Waffen unbarmherzig geahndet. Vor kurzem kam es vor der Kirche von Saint-Germain-l'Anxerrois zu einem heftigen Kampfe, wobei sich wahre Wunder zutrugen: Blinde wurden sehend und versuchten Krüppeln, die plötzlich ihr zweites Bein wieder fanden, die Augen ausznkratzen, bis der Schweizer, mit seiner Hellebarde aus der Kirche her­beieilend, den Frieden wieder herstellte.

Die Berufsbettler haben zwar keinen Zunftmeister, aber dafür Agenturen, die das Geschäft vereinheitlichen, die Bettler in Sold nehmen, zu den Festtagen und bei andern großen Gelegenheiten Hilfstruppen aus der Provinz ver­schreiben und ihre Kriegsscharen an diejenigen Punkte der Weltstadt werfen, wo die scherbare Schafherde am dichtesten ist. Nach beendigter Schur erhebt die Agentur ihre Ab­gaben und sorgt für die Beköstigung und Unterkunft ihrer Gäste. Neben diesen Vermittlungsgeschäften giebt es auch eine Bettlerbörse, wo unter andern: gute Plätze gehandelt und verkauft werden, denn wie im allgemeinen der Fran­zose, so hat im besonderen der durch und durch konservative französische Bettler die höchste Achtung vor erworbenen Rechten. Derartige Plätze können natürlich auch vererbt werden oder als Mitgift dienen. Ein im Beruf ergrauter,arbeits­müder" Bettler beispielsweise will in einem seiner Häuser

sohn seinen Platz, seinAmt" vor der Madeleine, das den Brautschatz vollkommen überflüssig macht. Wo giebt es in der weiten Welt einen Beamten, der dies schöne Beispiel nachzuahmen und nach seiner Verabschiedung den Schwiegersohn an seine Stelle zu setzen vermöchte!

An der Bettlerbörse, die, wie so viele andre, im Freien abgehalten wird, sind auch Listeu feil, welche die Namen der Anbettlungswürdigen enthalten. Nicht etwa nur trockene Namen und Bestimmungen, nein, alles, was zu wissen notwendig ist, um Herrn X und Frau P sicher übers Ohr zu hauen. Die nachfolgenden Beispiele werden eine sichere Vorstellung von dem Inhalt eines solchen Vademekum geben: I. S., Fabrikant. Wohnte lange Zeit in M. und stand dort an der Spitze einer großen Fabrik. Sagen Sie, daß Sie beim Tode Ihres Mannes Ihr Vermögen verloren, daß Sie Kinder haben und so weiter. Sie können Ihre Miete nicht bezahlen, dann giebt er. Spätestens 7 Uhr morgens zu ihm gehen."Doktor W. Vortrefflich. Giebt 20 Franken."Doktor S. Gut. 5 Franken." Frau F. Brieflich. Geben Sie sich für die Witwe eines Musikers aus, der ihren Mann gut gekannt hat. Kündigung Ihrer Wohnung einschicken, aber nicht unter meinem Namen. Habe zweimal 20 Franken und einmal 10 Franken erhalten."General B. . . . Klerikal. Habe ihn vorigen Januar mit 20 Franken hineingelegt. Weinen Sie."

Ueber die Straßenbettler nur wenige Worte; sie sind in allen Großstädten, deren Besonderheiten sie sich trefflich anzupassen verstehen, ziemlich dieselben. Die blinden Bettler von Paris sind jedenfalls fast alle sehend. Ich kenne eiüe Bettlerin, deren Eigentümlichkeit es ist, ihnen als Stecken und Stab zu dienen. Zurzeit führt sie ihren dritten blinden Gatten" durch die Straßen, da sie sich mit den beiden andern bei der Teilung des Raubes entzweit hat. Um den Krüppel mit einem Arm oder ohne Arm zu fpielen, mietet man eine mechanische Vorrichtung: 20 Franken Pfandgeld, einen Franken Tagesmiete. Den Einbeinigen kann man dagegen ohne kostspielige Vorrichtung fpielen. Von zwei Brüdern, die in: Kriege verwundet sein wollen, verbirgt der eine den Unterschenkel, indem er ihn hinten emporbiegt und am Oberschenkel befestigt, wodurch eiu Stummel entsteht; der andre läßt mit akrobatenhaftem Ge­schick, ich weiß nicht, wie das ganze Bein verschwinden.

Beide verdienen täglich 20 bis 22 Franken, abgesehen von dem geschenkten Brote, das sie regelmäßig an einen Hunde­besitzer verkaufen. Mir ist ferner ein Berufsbettler bekannt, der auf den großen Boulevards neun Monate lang ein einbeiniges Dasein führt und während der drei andern Monate in einer von Badeort zu Badeort wandernden Truppe erster Tänzer ist. Ein andrer Einbeiniger bettelt in Paris und wohnt wie ein behäbiger Bourgeois in der Umgegend, wo man ihn für einen Beamten des Justiz­ministeriums hält. An Taubstummen, die ihre Sprache wiedersinden, wenn es Schnaps und Absinth zu bestellen gilt, fehlt es so wenig wie an solchen Bettlern, die Krank­heiten heucheln, mit Vorliebe den Veitstanz und die Epi­lepsie. Undder arme Arbeiter ohne Arbeit",der ehe­malige Militär", der Unglückliche, der im Winter seine wollenen Unterjacken unter Lumpen oder sadendünnen Stoffen verbirgt und jämmerlich mit den Zähnen klappert, oder jener andre, der Geld verloren zu haben vorgiebt und heult und flennt, das sind Bettlertypen, denen wohl schon jeder begegnet ist. Während der großen Winter­kälte des Jahres 1890 hatte man in den Hallen des Marsfeldes 700 Arbeits- und Obdachlose von Staats wegen beherbergt, bewirtet, bekleidet. Eine wohlthätige Anstalt bot ihnen sämtlich Wohnung, Nahrung und einen freien Vormittag, um sich Arbeit suchen zu können, unter der Bedingung, daß sie nachmittags Holz spalteten. Am dritten Tage war die Legion zu einem Häuflein von elf Mann zusammengeschmolzen das Betteln ist eben bequemer und bringt mehr ein! Ein neuester Bettlerkniff besteht in folgendem: Vor einem Omnibushalteplatz werden die Damen besonders, wenn sie es eilig haben von einer angeblich in ähnlicher Lage befindlichen, anständig gekleideten Dame, die ihre Geldbörse vergessen hat, um das nötige Kleingeld (1530 Centimes) angegangen, und selten umsonst.

Die Ausbeutung der Geistlichkeit und frommer Gemeinde­mitglieder wird in der Hauptstadt der Kirchenbettelei selbst­verständlich schwunghaft betrieben: man möchte wohl eine wilde Ehe in eine regelmäßige verwandeln, sein Kind taufen lassen, aber es fehlen die Mittel dazu und Geld und Kleidung wird den vermeintlichen Opfern der unvollkommenen Gesellschaftsordnung reichlich gespendet. Wenn diese ihr Versprechen hielten, würde manches ihrer eignen oder ge­mieteten Kinder ein dutzendmal und häufiger getauft worden sein. Die nachfolgende Geschichte diene als würdige Krönung des weiter oben Mitgeteilten: Ein Geistlicher wird in die Dachkammer eines Sterbenden gerufen, um ihm den letzten Trost zu spenden. Er findet indessen nur noch einen Toten, vor dessen Bett eine die Hände ringende Witwe kniet. Nachdem er diese getröstet, ihr ein Goldstück in die Hand gedrückt und neue Spenden zur Bestreitung der Begräbnis­kosten versprochen hat, verläßt er die Stätte der Trauer. Auf der Straße bemerkt er, daß er seinen Schirm vergessen hat, kehrt zurück, öffnet, ohne anzuklopfen, und siehe da: als ein neuer Lazarus sitzt der Tote am Tisch und leert mit seiner untröstlichen Witwe vermutlich auf die Ge­sundheit des frommen Spenders! eine Flasche Bur­gunder.

ÄMano DonyeLti.

Zu feinem Hundertsten Keburtstnge.

68)as glänzende Dreigestirn, das bis zu den vierziger cV Jahren dieses Jahrhunderts die italienische Opern­bühne beherrschte und den Ruhm derselben in die gesamte gebildete Welt hinaustrug, Rofsini-Bellini-Donizetti, hatte etwas von dem Wesen eines Meteors an sich es trat am Firmament hervor, blendete die Augen der Zeitgenossen und war verschwunden, bevor diese sich Rechenschaft dar­über abzulegen vermochten. Jeder der drei Tonmeister ent­faltete eine staunenswerte schöpferische Thätigkeit, und doch war keinem derselben eine längere Zeit des Wirkens zu­gemessen: Rossini legte sich vom Jahre 1829 an mit siebenunddreißig Jahren selbst Stillschweigen auf, Bellini starb 1835, kaum einunddreißig Jahre alt, und Donizettis Geist umnachtete sich vom Jahre 1844 an, bevor der Maestro volle siebenundvierzig Jahre zurückgelegt hatte. Er war somit der einzige , der als noch schaffender Geist in die Zeit hinüberragte, in der sich in der italienischen Oper ein Wandel zu vollziehen begann, und der leichte und gefällige Melodienfluß einer blumigen, eleganten und senti­mentalen Musik allmählich dem ernsteren und gesetzteren Wesen einer mehr und mehr nach Charakteristik und dramatischem Ausdruck ringenden Behandlungsweise weichen mußte.

Donizetti hat mehr als sechzig Opern hinterlassen und in denselben eine ungemeine Vielseitigkeit entfaltet, er hat das lyrische Drama von seiner ernsten und heiteren Seite gepflegt und, wenn im allgemeinen auch den Boden der heimischen Schaffensweise nicht verlassend, doch versucht, dem Wesen der französischen wie der deutschen Oper ent­gegen zu kommen. Auf der Bühne seines Heimatlandes hat er sich mit einer größeren Zahl von Werken behauptet, auf der ausländischen mit etwa acht bis neun, mit diesen aber in einer ziemlich festen und unerschütterlichen Weise. Es zählen zu denselben vor allem die drei komischen Opern