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Ueöer Land und Meer.
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Jetzt kamen ein paar Stunden, wie Hubert sie noch nie erlebt hatte. Nein, noch nie! sagte er sich, wenn er einen Moment aus dem Glücksrausch zu sich selber kam. Das prächtige Zimmer, die seinen Tafelgeräte, die Treibhausblumen, die vorzüglichen Speisen! Dazu der Wein, der ihm, so vorsichtig er auch trank, gleich zu Kopfe stieg.
Allmählich geriet Hubert in einen wahren Taumel der Beredsamkeit. Gleichgültigen oder anti- pathischen Leuten gegenüber erstarrte ihm das Wort auf der Zunge. Heut aber sprudelte sein Bestes wie aus tiefsten Schächten Vater und Tochter zu.
Frau von Nienstedts beobachtende Augen störten ihn nicht. Doch regte sich sein Kampsmut, wenn sie ihre Bemerkungen machte mit der unfehlbaren Ruhe einer Sibylle.
Er konnte seine Verwunderung über die Verschiedenheit der Geschwister nicht verhehlen.
„Ja, die Sophie," meinte Berghauer. „Die hat auch ihr Lebtag aus ihrer Scholle gesessen — eine Königin im kleinen, ja die höchste Autorität in Sachen der Moral, des Geschmacks und so weiter auf zehn Meilen in der Runde. Sie ist so positiv. Sie hat nie Zweifel. Es steht alles so bei ihr — es ist 'ne wahre Freude! Deshalb brauch' ich sie ganz notwendig als Korrektiv. Denn ich bin leider Gottes draußen ein Durchgänger geworden .. . Hab' heute die und morgen die Ueberzeugung, bin mir nie zu alt oder zu gescheit, das Bessere anzunehmen, wo ich's finde, und schäme mich nicht, mit sechzig Jahren noch beim Leben in die Schule zu gehn. Und die Lolo" — er kraute sich mit humoristischer Zerknirschung hinterm Ohr — „die ist mir nachgeraten."
„Gott sei Dank, Papa!" lachte Lotte. Sie strahlte vor Lebensfreude, vor sprühender Ausgelassenheit. Es war ein fortwährender Wechsel in ihrem Wesen, bald Heiterkeit, bald Ernst. Wie eine Landschaft an einem stürmischen Frühlingstage.
„Leider!" sagte Frau von Nienstedt nachdrücklich.
In Hubert schwoll die Kampflust mächtig auf.
„Fräulein Lolo," wandte er sich an die würdige Dame auf dem Sofa, „hat ja am Ende auch das Recht, ein bissel .Durchgängerin' zu fein."
„Weshalb?" Frau von Nienstedt hob den Kopf.
„Nun — als Künstlerin —"
„Wollen Sie etwa für die ,Künstlerin^ besondre Gesetze gelten lassen? Soll nicht gerade sie immer in erster Linie Frau fein?"
„ Mann oder Frau — über dem Menschen steht immer der Künstler. Wer dem nicht recht giebt, wenn er mit dem Menschen handgemein wird, der mag sich schimpfen wie er will — ein Künstler ist er nicht."
„Sie werden mir aber doch zugeben müssen," sagte Frau von Nienstedt etwas scharf, „daß jeder noch so hoch begabte Mensch vor allem die Pflicht hat, ein Priester der Moral zu sein."
Dies Diktum traf Hubert an feinem wundesten Punkt. Pharisäerin! dachte er zornig. Aber er nahm sich gewaltig zusammen. Er sah Kläres Augen mit kindlich unbefangener Neugier auf sich gerichtet, während sie von einer Weintraube langsam Beere auf Beere pflückte und zierlich, mit spitzen Fingern, in den roten Mund schob.
Neben ihr saß Karl Wedekind, rund und rötlich, in einer Hand das Dessertmesser, in der andern eine halbgeschälte saftige Birne. Doch hatte er das Vorhaben, die schöne Frucht zu verspeisen, vor Schreck ganz vergessen.
Hubert war's, als er seines Freundes betroffene Augen sah, als müsse er verteidigen, was er sich als das Recht seiner höheren Natur herausgenommen hatte. „Kunst, gnädige Frau, ist ja höchste Sittlichkeit. Und Künstler sind Zukunftsmenschen. Vorposten ihrer Generation, ja vielleicht vieler Generationen. Wie langsam humpelt der Koloß der ander:: ihnen nach, versteht sie nicht, verlästert, verketzert sie — steinigt sie. Weil das, was sie thun müssen, was in Zukunft als Gesetz höherer Menschlichkeit gilt, von der dumpfen Zeit noch nicht begriffen, ja vielleicht unter irgend einen Paragraphen des Strafgesetzbuchs gestellt wird..."
Er hielt inne, von Lottes leuchtenden Augen getroffen.
Dann schloß er energisch: „Wo eines Menschen höchste Kraft ist, da ist auch seine höchste Pflicht."
„Bravo," sagte Berghauer.
„Für Ausnahmenaturen — Ausnahmegesetze! Ihr vernichtet das Talent, wenn ihr's unters Militärmaß ducken wollt!"
Wenn er Alltagsmenschen sich über das, was der Künstler thun oder lassen soll, wichtigthuerisch verbreiten sah, erschien ihm das gerade so wahnsinnig vermessen, als wenn ein Taubgeborner sich unterfinge, eine Beethovensche Symphonie zu bekritteln.
„Verzeihen Sie, gnädige Frau," wandte er sich mit einer kleinen Verbeugung an die Tante, die spöttischkalt, in jedem Zug schweigende Opposition, ihm gegenüber saß. „Mir scheint, ich Hab' mich da einer argen Ketzerei schuldig gemacht. Aber es wird mich gewiß entsühnen in Ihren Augen, wenn ich sage: mein bißchen Weisheit Hab' ich mir errungen, wie einer, der, Wissenschaft halber, aus den Montblanc geklettert ist. Mit seinen gesunden Gliedern hat er vielleicht die Erfahrung bezahlt. Aber über den Montblanc' kann er jetzt reden. Und mit besserem Recht als die Leutchen, die klüglich unten geblieben sind."
„Ja!" ries, ehe noch jemand anders hatte zu Worte kommen können, Karl Wedekind mit dem Brustton der Ueberzeugung. Es war sein Schicksal, Hubert glauben zu müssen. Sein empfänglicher Geist konnte den kräftigen Ideen des Freundes nicht widerstehn. Der stand wieder einmal gerechtfertigt vor ihm.
Er hatte bisher mit sehr gemischten Gefühlen am Tisch gesessen. Ein ehrlicher Stolz schwellte ihn, zu fehu, wie sehr Hubert feiner Empfehlung Ehre machte. Immer war er der Mittelpunkt des Interesses. Und Verghauer sah man's an, daß er schon förmlich .einen Narren gefressen' hatte an seinem Dichter.
Bloß in Lottes glänzende Augen durfte Karl nicht sehn. Dann überkam ihn ein seltsam beklommenes Gefühl. Sie ließ sie oft so selbstvergessen auf Huberts Gesicht ruhen. Aus ihrer sprühenden Lebhaftigkeit versank sie manchmal in ein kurzes Träumen.
Er hatte sie beobachtet während Huberts Rede. Eine stille, weltentrückte Verklärung hatte auf ihrer Stirn, über den gesenkten Augenlidern gelegen.
Sie ahnt ja nichts, dachte er, von dem Lieferen Sinn seiner Worte. Auch Berghauer und die Tante nahmen sie ganz harmlos als allgemeine Betrachtungen.
Kläres lustige Plaudereien störten ihn fast. Heut wollt' er nur sehen, hören, beobachten. Darüber war er allmählich ganz einsilbig geworden, und sein energisches, unvermutetes „Ja!" zog ihm die erstaunten Blicke aller zu.
In Hubert erweckte dies Wort eine plötzliche, unliebsame Erinnerung. Wie ein dunkler Schatten tauchte es auf — aber es hatte keine Macht — schnell zerrann es wieder.
„Ich bin — um bei Ihrem Bilde zu bleiben — keine Freundin vom Bergsport," sagte Frau von Nienstedt ablehnend. „Und wenn so ein Tollkühner sich den Hals bricht — man liest das ja alle Augenblick in der Zeitung — Hab' ich ihn beim besten Willen nicht so bedauern können wie zum Beispiel einen ehrlichen Arbeiter, der in seinem Beruf, für Weib und Kind verunglückt ist."
Hubert zuckte die Achseln. Beschränkt! dachte er verächtlich. Als wenn unser Bergkraxeln nicht auch ehrliches Arbeiten wär'! Aber wie sollst du das verstehn!
„Ich glaube, wir einigen uns nicht, gnädige Frau," sagte er, das Gespräch abbrechend. „Dafür will ich Ihnen aber das Recht zugestehn, mich gehörig ausznlachen, wenn ich mir mal bei so 'ner Kletterpartie — bildlich — den Hals brechen sollte."
„Dummes Zeug!" schrie Berghauer und hielt Hubert sein Glas hin. „Auf einen glücklichen Aufstieg, Meister Hubertus!"
Von allen Seiten wurden ihm Pokale entgegengehalten. Auch seine Widersacherin war Weltdame genug, aus der Ferne ihr Glas gegen ihn zu erheben.
Ganz zuletzt erst wagte er's, Lolo anzusehn. Wie ein Schwindel ergriff es ihn. Etwas war in diesen lebensprühenden Sternen wie: ,Wir beide, nicht wahr, wir beide finden den Weg da hinauf!'
In diesem Augenblick hob die Tante mit der ihr eignen Würde die Tafel auf.
Während des Kaffeetrinkens bewegte sich die kleine Gesellschaft zwanglos in den schönen Räumen.
Klären hatte es längst das Herz abgedrnckt, ihrem Freunde Karl, mit dem sie noch voriges Jahr Haschen und andre wilde Spiele gespielt hatte, ihre Meinung über Hubert auszusprechen.
„Also der ist Ihr Freund?" flüsterte sie, als sie beide allein im Zimmer zurückgeblieben waren.
Er nickte zerstreut. „Gefällt er Ihnen nicht?" fragte er, bloß aus Gutmütigkeit. Denn was diese Schwester über Hubert dachte, war ihm sehr gleichgültig.
„Gefallen?" Sie hob die vollen Schultern. „Ich weiß nicht... Aber interessant ist er! Riesig! Fabelhaft!"
„So," sagte er trocken.
„Ich Hab' mal den Don Karlos gesehn. So sieht er gerade aus. Bald wie: ,Hier liegen meine Reiche!' Und dann wieder: -Königin, das Leben ist doch schön!'"
„Das letzte hat meines Wissens der Marquis Posa gesagt. Oder meinen Sie den vielleicht?"
„Pfui! Ich weiß ganz genau, was ich meine. Ich will auch bloß sagen: er hat so was Besonderes. So a la Ritter Blaubart. Wissen Sie, mit dem Schlüssel: Und wie sie ausschließt, liegen da alle seine zwölf toten Frauen."
Karl mußte lachen und wurde dann wieder sehr ernst. Diesem Kinde, das noch ganz voller Märchen steckte, war der unerbittliche Zug in Huberts Gesicht nicht entgangen. Jetzt machte sie ein paar Schritte nach der Tafel, auf der noch die Reste des Desserts standen.
„Die Lolo scheint sich gar nicht vor ihm gefürchtet zu haben," plauderte sie weiter. „Die mag solche Leute. Ich nicht."
Sie steckte eine gebrannte Mandel in den Mund und knabberte vergnügt darauf los. Dann vertiefte sie sich in die Prüfung der übrigen Süßigkeiten.
„Wenn das die Tante sieht!" warnte er.
„Gehn Sie nur!" flüsterte sie. „Sie haben nichts gesehn."
Er ging ins Nebenzimmer, das schweigsam dalag in seinem Hellen Lichtglanz. Schon glaubte er, es sei leer. Da sah er Charlotte in der Nähe des Fensters stehn — ganz allein.
Sie stand da wie ein schönes Bild träumerischer Versunkenheit, regungslos, den Kopf etwas gehoben, die Augen weitgeöffnet ins Leere gerichtet. Erst als Karl, dessen Schritte der Weiche Teppich gedämpft hatte, dicht neben ihr war, schreckte sie zusammen und sah ihm in das ehrliche, ein wenig blasse und ernste Gesicht.
Es fiel ihr wohl ein, daß sie ihm heut erst wenig Worte gegönnt hatte. Sie lächelte zerstreut. „Ach, Herr Doktor!" rief sie.
„Sie waren so in Gedanken, Fräulein Charlotte."
„Bloß müde. Ein bißchen abgespannt. Nach dem Wein, wissen Sie."
Sie fühlte sich durch seinen ernsten Blick bedrückt, wurde unruhig und suchte augenscheinlich nach einem Vorwand, das Tete-a-tete abzukürzen.
Vor acht Tagen hatte sie noch stundenlang freundschaftlich mit ihm geplaudert. Diese ganze Woche war er herumgegangen wie ein Kind vor Weihnachten.
„Fräulein Lolo," fragte er, „wie weit ist Ihr Bild?"
„Welches Bild?" Ihre Augen schweiften umher. Sie schien zu horchen.
„Ihr letztes. Von dem wir neulich sprachen."
„Ach so!" Eine plötzliche Lebhaftigkeit kam in ihr Gesicht, ihre Glieder, ihr ganzes Wesen. Sie war wie verwandelt. „Kommen Sie," rief sie, „ich zeig's Ihnen."
Sie lief ihm fast voran, mit ihren schönen, leichten Bewegungen, die an Schwalbenflng erinnerten. Das letzte Zimmer in der Flucht lag nach Norden. Sie benutzte es gelegentlich zun: Malen. Ihr eigentliches Reich war im Oberstock.
Das Aroma feiner Zigarren drang ihnen entgegen. Laute Männerstimmen schollen aus dem Zimmer.
Als sie eintraten, fanden sie die beiden Herren vor einigen Bildern, die an den Wänden aufgehängt oder an passenden Plätzen aufgestellt waren.
„Also er ist begeistert, Lolo!" rief Berghauer vergnügt. „Warum hast du dich denn verkrochen?
(Fortsetzung siehe Seite 182 .)