Heft 
(1898) 12
Seite
186
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Uelier ^and und Meer.

M 12

Was? Das wechselt. Er ist im stände und zaubert Ihnen in zehn Minuten eine richtige Sixtina aufs Trottoir. Aber in der Regel ist er mehr Ruysdael oder Hobbema. Landschaften find seine Force; dazu Seestücke. Die Klippe von Dover Hab' ich Wohl zwanzigmal gesehn und über das Meer hin den zitternden Mondstrahl. Da haben Sie schon was zur Auswahl. Und nun fragen Sie Melusine. Die hat von London und Umgegend viel mehr gesehn als ich und weiß, glaub' ich, in Hampton-Court und Waltham-Abbey besser Bescheid als an der Oberspree, natürlich das Eierhüuschen ausgenommen. Und wenn Melusine versagen sollte, nun, so haben wir ja noch unsre Tochter Cordelia. Cordelia war damals freilich erst sechs oder doch nicht viel mehr. Aber Kindermund thut Wahrheit kund. Armgard, wie wär' es, wenn du dich unsers Freundes annähmest."

Ich weiß nicht, Papa, ob Herr von Stechlin damit einverstanden ist oder auch nur sein kann. Vielleicht ging' es, wenn du nur nicht von meinen sechs Jahren gesprochen hättest. Aber so. Mit sechs Jahren hat man eben nichts erlebt, was, in den Augen andrer, des Erzählens wert wäre."

Comtesse, gestatten Sie mir ... die Dinge an sich sind gleichgültig. Alles Erlebte wird erst was durch den, der es erlebt."

Ei," sagte Melusine.So bin ich zum Erzählen noch mein Lebtag nicht aufgefordert worden. Nun wirst du sprechen müssen, Armgard."

Und ich will auch, selbst auf die Gefahr hin einer Niederlage."

Keine Vorreden, Armgard. Am wenigsten, wenn sie wie Selbstlob klingen."

Also wir hatten damals eine alte Person im Hause, die schon bei Melusine Kindermuhme gewesen war, und hieß Susan. Ich liebte sie sehr, denn sie hatte wie die meisten Irischen etwas ungemein Heiteres und Gütiges. Ich ging viel mit ihr im Hydepark spazieren, wohnten wir doch in der an seiner Nordseite sich hingehenden großen Straße. Hydepark erschien mir immer sehr schön. Aber weil es tagaus tagein dasselbe war, wollt' ich doch gern einmal was andres sehn, worauf Susan auch gleich einging, trotzdem es ihr eigentlich verboten war. ,Ei freilich, Comtesse', sagte sie, ,da wollen wir nach Martins le Grand? Mas ist das?' fragte ich; aber statt aller Antwort gab sie mir nur ein kleines Mäntelchen um, denn es war schon Spätherbst, so etwa wie jetzt, und dunkelte auch schon. Aus dem, was dann kam, muß ich annehmen, daß es um die fünfte Stunde war. Und so brachen wir denn auf, unsre Straße hinunter, und weil an dem Parkgitter entlang lauter große Röhren gelegt waren, um hier neu zu kanalisieren, so sprang ich auf die Röhren hinauf, und Susan hielt mich an meinem linken Zeigefinger. So gingen wir, ich immer aus den Röhren oben, bis wir an eine Stelle kamen, wo der Park aushörte. Hier war gerad' ein Droschkenstand, und Hafer und Häcksel lagen umher und zahllose Sperlinge dazwischen. In der Mitte von dem allem aberstand ein eiserner Brunnen. Auf den wies Susan hin und sagte: ,Uooll at U, äear Xrmgarä. Ibers Mooä llgburn-Eallmvs.' Und wer so viel gestohlen hatte, wie gerad' ein Strick kostete, der wurde da gehängt."

Eine merkwürdige Kindermuhme," sagte Stechlin. Und erschraken Sie nicht, Comtesse?"

Nein, von Erschrecken, so lange Susan bei mir war, war keine Rede. Sie hätte mich gegen eine Welt verteidigt."

Das söhnt wieder aus."

Und kurz und gut, wir blieben auf unserm Weg und stiegen alsbald in ein zweirädriges Cab, aus dem heraus wir sehr gut sehen konnten, und jagten die Oxfordstraße hinunter in die City hinein, in ein immer dichter werdendes Straßengewirr, drin ich nie vorher gekommen war und auch nachher nicht wieder gekommen bin. Bloß vor Zwei Jahren, als wir aus Besuch drüben waren und ich den alten Plätzen wieder nachging."

Ich glaube," sagte Melusine,daß du bei diesem zweiten Besuch eine gute Anleihe machst. Denn von dem mit Susan Gesehenen wirst du nicht mehr viel zur Verfügung haben."

Doch, doch. Und nun hielt unser Hansom- Cab vor einem großen Hause, das halb wie ein Palast und halb wie ein griechischer Tempel aussah,

und unter dessen Säulengang hinweg wir in eine große, mit vielen hundert Menschen erfüllte Halle traten. Ueber ihren Köpfen aber lag es wie ein Strom von Licht, und ganz nach hinten zu, wo die Lichtmasse sich zu verdichten schien, standen aus einem Podium zwei in rote Röcke gekleidete Bedienstete mit ein paar großen Behältern links und rechts neben sich, die wie Futterkisten mit weit aufgeklapp­tem Deckel aussahen."

Und nun laß Stechlin raten, was es war."

Er braucht es nicht Zn raten," fuhr Armgard fort,er weiß es natürlich schon. Aber er muß trotzdem aushalten. Denn er hat es selber so ge­wollt. Also Podium und Rotröcke samt aufgeklappter Kiste links und rechts. Und die hell erleuchtete Uhr darüber zeigte, daß es nur noch eine Minute bis sechs war. An ein sich Herandrängen war nicht zu denken, und so flogen denn die Brief- und Zeitungs­pakete, die noch mit den letzten Postzügen fort sollten, in weitem Bogen über die Köpfe der in Front Stehenden weg, was aber dabei statt in die Be­hälter bloß auf das Podium siel, das wurde von den Rotröcken mit einer geschickten Fußbewegung in die Fntterkisten hineingeharkt. Und nun setzte der Uhrzeiger ein, und das Fliegen der Pakete steigerte sich, bis geuau mit dem sechsten Schlag auch der Deckel jeder der beiden Kisten zuschlug."

Reizend, Comtesse. Natürlich seh' ich mir das an, und wenn ich ein Rendezvous mit der Königin darüber versäumen müßte."

Nichts Antimonarchisches," lachte der alte Graf. Und so kommen Susans Unthaten schließlich noch ans Licht."

Und meine eignen dazu. Glücklicherweise durch mich selbst."

Das Gespräch setzte sich noch eine Weile fort, und allerlei Schilderungen aus dem Klein- und All­tagsleben behielten dabei die Oberhand. Ein paarmal, weil er wohl sah, daß Woldemar gern auch andres zu hören wünschte, versuchte der alte Graf das Thema zu wechseln, aber beide Damen blieben beisboxxing" undlive o'eloell tea", bis Melusine, der Wolde­mars Ungeduld ebenfalls nicht entgangen war, mit einem Male fragte:Haben Sie je von Traitors- Gate gehört?"

Nein," sagte Woldemar.Ich kann es mir aber übersetzen und meine Schlüsse daraus ziehn."

Das reicht aus. Also natürlich Tower. Nun sehn Sie, Traitors-Gate, das war meine Domäne, wenn Besuch aus Deutschland kam und ich wohl oder übel den Führer machen mußte. Vieles im Tower langweilte mich, aber Traitors-Gate nie, vielleicht deshalb nicht, weil es ziemlich zu Anfang liegt, so daß ich, weun wir's erreichten, immer noch bei Frische war, nicht abgestumpft durch all die Schrecklichkeiten, die dann weiterhin folgen."

Also Traitors-Gate muß ich sehn?"

Unbedingt. Aber freilich, wenn ich dann wieder erwäge, daß an dieser berühmten Stelle nichts unmittelbar Wirkungsvolles Zu sehn ist, so muß ich mich dabei auf Ihre Phantasie verlassen können. Und ob das geht, weiß ich nicht. Wer aus der Mark ist, hat meist keine Phantasie."

Der alte Gras und Armgard schwiegen, und auch Melusine sah wohl, daß sie mit ihrer Be­merkung etwas zu weit gegangen war. Irgend eine Reparierung war also geboten.Ich will's aber Phantasie oder Nicht-Phantasie doch mit Ihnen wagen," nahm sie das Gespräch wieder auf und lachte.Traitors-Gate. Nun sehen Sie, Sie kommen da vom Eingänge her einen schmalen Gang entlang, und mit einem Male haben Sie statt der grauen Steinwand ein eisenbeschlagenes Holzthor neben sich. Hinter diesem Thor aber befindet sich ein kleiner, ganz unten in der Tiefe gelegener Wasserhof, von dem aus eine mehrstufige Treppe steil heraufführt und oben an eben der Stelle mündet, wo Sie stehn. Und nun rechnen Sie dreihundert Jahre zurück. Wein sich die Pforte damals aus- that, um sich hinter ihm wieder zu schließen, der hatte vom Leben Abschied genommen... Es sind, verzeihen Sie das Wort, glibbrige Stufen, die da hinausführen (denn die Flut steigt und fällt an dieser Stelle beständig), und wer alles stieg da hinauf! Essex, Sir Walter Raleigh, Thomas Morus und zuletzt noch jene Clanhüuptlinge, die für Prince Charlie gesochten hatten und deren Köpfe dann,

um wenige Tage später, von Temple-Bar herab, auf die City niedersahen."

Liegt, Gott sei Dank, weit zurück."

Ja, weit zurück. Aber es kann wieder­kommen. Und das war es, was immer, wenn

ich da stand, den größten Eindruck aus mich machte. Diese Möglichkeit, daß es wiederkehre. Denn ich er­innere mich ja, du warst es selbst, Papa, der es mir erzählte daß Lord Palmerston in seinein Unmut über die koburgische Nebenpolitik (ich glaube während der Krimkriegtage) gesagt haben solle: dieser Prince-Consort thäte gut, sich unser Traitors-Gate mal anzusehn. Es ist Zwar schon ziemlich lange, daß Könige da die Treppe hinanfgestiegen sind, aber es ist doch noch nicht so lange, daß wir uns dessen nicht mehr entsinnen könnten. Und ein Prince- Consort ist noch lange kein König."

Woldemar, als Melusine dies mit überlegener Miene gesagt hatte, lächelte vor sich hin, was die Gräfin derartig verdroß, daß sie nicht ohne Ge­reiztheit hinzusetzte:Sie lächeln; da seh' ich doch, wie sehr ich im Rechte war, Ihnen die Phantasie ab­zusprechen."

Verzeihen Sie mir..."

Und nun werden Sie auch noch feierlich. Das ist die richtige Ergänzung. Im übrigen, wie könnt' ich mit Ihnen zürnen! Ein berühmter deutscher Professor soll einmal irgendwo gesagt haben: .nie­mand sei verpflichtet, ein großer Mann zu sein.' Und ebensowenig wird er als etwas Pflichtmäßiges eine große Phantasie gefordert haben.

Woldemar küßte ihr die Hand.Wissen Sie, Gräfin, daß Sie doch eigentlich recht hochmütig sind?"

Vielleicht. Aber mancher entwaffnet mich wieder. Und zu diesen gehören Sie."

Das ist nun auch wieder aus dem Ton."

Ich weiß es nicht. Aber lassen wir's. Und versprechen Sie mir lieber, mir von Windsor oder London aus eine Karte zu schreiben. . . nein, eine Karte, das geht nicht. . . also eineu Brief, darin Sie mir ein Wort über die Engländerinnen sagen, und ob Sie jede taillenlose Rotblondine drüben auch Ihrerseits so schön gefunden haben werden, wie's von den Kontinentalen fast immer versichert wird."

Es wird davon abhängeu, an wen ich gerade denke."

Nach dieser Bemerkung ist Ihnen alles verziehn."

Woldemar blieb bis neun. Er hatte gleich in den Zeilen, in denen er sich anmeldete, die Damen wissen lassen, daß er seinen Besuch auf eine kurze Stunde beschränken müsse. So war er denn bei guter Zeit wieder daheim. Auf seinem Tische fand er ein Briefchen vor und erkannte Rex' Handschrift. Lieber Stechlin," so schrieb dieser,ich höre eben, daß Sie nach London gehn. In der Zeitung, wo's schon gestanden haben soll, Hab' ich es übersehn. Ich beglückwünsche Sie von Herzen zu dieser Aus­zeichnung und lege Ihnen eine Karte bei, die Sie (wenn's Ihnen paßt) bei meinem Freunde Ralph Waddington einführen soll. Er ist Advokat und einer der angesehensten Führer unter den Jrvingi- anern. Fürchten Sie übrigens keine Bekehrungs­versuche. Waddington ist ein durchaus feiner Mann, also zurückhaltend. Er kann Ihnen aber mannigfach behilflich sein, wenn Ihnen daran gelegen sein sollte, sich um das Wesen der englischen Dissenter, ihre Chapels und Tabernakels zu kümmern. Er ist ein Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Und ich kenne ja Ihre Vorliebe für derlei Fragen."

Stechlin legte den Brief unter den Briefbeschwerer und sagte:Der gute Rex! Er überschätzt mich. Dissenterstudien. Es genügt mir, wenn ich einen einzigen Quäker sehe."

XXIII.

Was Rex da schrieb, hatte doch ein Gutes gehabt: Woldemar, erheitert bei dem Gedanken, sich durch Ralph Waddington in ein Tabernakel Angeführt zu sehn, sah sich mit einem Male einer gewissen Ab­spannung entrissen und war froh darüber, denn er brauchte durchaus Stimmung, um noch einige Briefe zu schreiben. Das ging ihm nun leichter von der Hand, und als elf Uhr kaum heran war, war alles erledigt.

Der andre Morgen sah ihn selbstverständlich früh auf. Fritz war um ihn her und half, wo noch zu Helsen war.Und nun, Fritz," so waren Woldemars