vorheben irgend eines provinzialen Partikularismus nicht förderlich sein, und so verschwand der märkische Dichter, um desto anspruchsvoller in der Hauptstadt selber sich aufzuthun und der Berliner Roman kam in Mode.
Graecia victa victorem ducit 55 und ein hübsch Stückchen Französelei haben die' Sieger von 1870 in ihren Tornistern mit heimgebracht. Dazu gehört der Glaube an den Segen der Centralisation, wie er sich in der Schöpfung einer großen Hauptstadt, die gleich Paris Kopf und Hirn des neu zusammengefügten Reiches sei, am wirksamsten äußern würde. In Anbetracht des Bundescharakters von Neudeutschland sollte, was sich durch Ministerialreskripte vorerst nicht erzwingen ließ, in der öffentlichen Meinung vorbereitet werden und auf dem Boden der Dichtung wollte man die Capitale Berlin erbauen. Mag hierbei nun, bei Verschiedenen verschieden, unbewußter oder bewußter Trieb oder gar nur Spekulation auf ein Wohlwollen höheren Ortes mitgewirkt haben: unglücklich ist das Unternehmen jedenfalls. Berlin steht zu wenig auf dem, was man gewachsenen Boden nennt, es mangelt ihm an der Individualität, durch welche die Kunst des Darstellers gereizt werden könnte. Seit kaum fünfzehn Jahren ist es auf dem Wege zur Weltstadt, aber dieser Weg ist der amerikanische. Es ist ein Wachsthum der Agglomeration, das sich nicht Zeit läßt, einen bestimmten Charakter zu pflegen. Das Ansässigwerden ist kein Einwachsen, der „alte Berliner" ist kein Typus mehr, selten, daß ein Familienstamm über drei, vier Generationen hinaus sich auf Berliner Boden hält, Patrizierhäuser, die auch nur bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts sich zurückverfolgen ließen, werden an den Fingern abzuzählen sein, nur die Rattenkönige der Bureau- kratie, die von Geschlecht zu Geschlecht den Bedarf an Geheimräthen decken, sind fruchtbar und mehren sich. Unter solchen Umständen ist denn auch von einem besonderen Charakter Berlins als Stadt nicht viel zu bemerken, eine an sich dürftige und nicht weit zurückreichende Geschichte hat auch nur dürftige Spuren hinterlassen, die oft genug noch durch eine nüchterne Schönheitspolizei verwischt und beseitigt worden sind; man freut sich ihrer wohlgeordneten Zustände, ihrer Reinlichkeit und Freundlichkeit, ihres industriellen Aufschwungs, aber eine Physiognomie, die den ernsthaften Reisenden oder gar den Dichter reizen könnte, hat die Stadt nicht. Und ebenso ist es mit dem, was man die Gesellschaft nennt, beschaffen. Der alte begüterte Adel, der durch vornehme Sitte und Lebensführung maßgebend seig könnte, will sich in Berlin nicht ansässig machen und läßt höchstens seine jungen Sprossen etliche Jahre in den Regimentern dort sich austoben; ein Kaufherrnstand, der sich durch ein Jahrhundert hindurch feste Traditionen des Hauses gebildet hätte, findet sich nicht; der höhere Gewerbestand ist durch die Spekulation und die Aktie zerbröckelt; die Börsenaristokratie trägt hier wie allerorten die gleiche gleich- giltige Physiognomie; selbst der hohen Beamtenstand hat, seit er in den letzten Jahrzehnten das gewohnte Tempo maßvollen Ab- und Zuflusses verloren, seine Gravität drangeben müssen: wo bleiben da die Typen oder auch nur die eigengeprägten Individualitäten, die einen Beobachter zur Zeichnung spezifisch Berliner Figuren anregen könnten? Man müßte sehr feinhörig sein, sehr tief in das Volk eingedrungen sein, um seiner Seele besondere Züge abzulauschen — Einer hat es gethan —, aber dazu waren die Verfasser dieser „Berliner Romane" um so weniger befähigt, als sie zumeist gar nicht geborene Berliner waren und die Stadt erst in Lebensjahren kennen gelernt hatten, die keine
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