Zeit mehr für solche Studien haben. So ist eine Reihe recht flott geschriebener, spannender Erzählungen entstanden, die, wie ihre Straßennamen bezeugen, in Berlin spielen, übrigens aber eine Gesellschaft zeichnen, die ebensogut in Wien, München oder einer anderen großen Stadt sich finden ließe und dort wahrscheinlich farbiger. Um die mangelnde Kraft der Figuren zu ersetzen, wird gewöhnlich eine starke Verwicklung der Begebenheiten, meistens eine Kriminalgeschichte, hineingewebt und, daß es an der Aktualität nicht mangele, mit einigen starken Redensarten durchschossen, wie sie etwa ein bewährter Reporter seinem Berichte über eine Sozialdemokratenversammlung als .Brillanten" aufsetzt. Und auf dem Titel ist dann zu lesen „Berliner Roman" und der idealere Zweck ist, dem Leser zu beweisen, daß Berlin zur deutschen Hauptstadt berufen sei, nicht nur auf Grund der deutschen Bundesverfassung, sondern nach seinem innersten Wesen und Werthe.
Darauf hin nun die einzelnen Werke durchzumustern, dazu fehlt hier, wo es nicht auf literarische Kritik ankommt, der Anlaß: nur Einer sei erwähnt, weil schon oben auf ihn als Ausnahme hingewiesen worden ist. Das ist Theodor Fontane mit seiner Novelle Irrungen und Wirrungen, dem Muster einer Berliner Erzählung. Sie ist an dieser Stelle von anderer Feder schon früher ihrer Bedeutung entsprechend gewürdigt worden 56 , so sei denn hier nur, unserm besondern Zwecke gemäß, hervorgehoben, daß ihre weiblichen Figuren, zumal die im Mittelpunkte stehende, feinst ausgeführte Typen Berliner Schlages sind. Nicht in den oberen Zehntausend findet man dergleichen, das folgt, wie vorher entwickelt, aus dem unhistorischen kosmopolitischen Zuge der Großstadt; nur in den Volksschichten ist eine Eigentümlichkeit zu suchen, und diese beruht dann auf dem Ursprünge der Bevölkerung, ihrem provinzialen Charakter. Die Stadt mehrt sich zum großen Theile durch Zuzug, überwiegend aus den östlichen Nachbarprovinzen, und deren Eigenart in Gemüth und Sitte lebt durch eine oder ein paar Generationen fort, bis sie von dem Strome der Großstadt fortgespült ist. Der Grundton slavischer Rasse ist es, den das geschärfte Ohr des Dichters herausgehört hat, die gedämpfte Lebenslust, die Schüchternheit im Glücksanspruch, das eingeborne Resignieren. In solch fahlem Lichte entwickelt sich in der Seele auch die Leidenschaft, gleich der Pflanze des nordischen Bodens, schwächer, bescheidener nach außen, aber wurzelechter, individueller. Die Geschlechtsliebe zumal, in den Romanen meist ein gar schablonenhaftes Gebilde, tritt in schmucklosem Ernst auf, ein launischer Sonnenstrahl, über die Haide fahrend, nicht zur Blüthe, nicht zur Frucht treibend, in ödem Dämmern bald wieder versunken, und doch fortan eines Lebens ganzen Werth bildend. — Es ist ein echter Dichter, der uns diese reine Frauenfigur geschaffen hat — aber damit hat der „Berliner Roman" auch einstweilen für uns sein Ende.
Derselbe Verfasser hat uns jüngst mit einer Sammlung kleinerer Arbeiten (Th. Fontane, Fünf Schlösser, Altes und Neues aus der Mark Brandenburg. Berlin, W. Hertz, 468 S.) beschenkt, welche hier erwähnt sein mögen, obwohl sie wesentlich historischer Natur sind. Sie behandeln die Quitzowzeit, die Schicksale des Schlosses zu Plaue an der Havel und seiner Besitzer, das wechselvolle Leben einer reichen Erbin aus dem vorigen Jahrhundert, der „Krauten- tocher", das Lebensbild eines vom Niederrhein in die Mark Brandenburg eingewanderten Edelmanns, des Herrn v. Hertefeld, schließlich persönliche
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