Aber zurück zu Ihrem Essay. Er enthält eine ganze Welt von Weisheit; nur wer in all diesen Dingen und Fragen (Pardon für die Renommisterei) so zu Hause ist wie ich, kann da folgen und würdigen. Man muß Berlin und Mark und Wedding und Voigtland und die Biers und die Fischers und Kleist und Wilibald Alexis und Franz Ziegler und Niendorf kennen, um zu wissen, wie treffend das alles ist. Aber wer darf sich dessen rühmen? Ich gehe die größte Wette ein, wir beide sind die einzig Lebenden, die in dieser Welt überhaupt noch zu Hause sind. Was weiß Lindau, für den ich übrigens ein Tendre, eine Schwäche habe, von Wilib. Alexis oder Ziegler? Da beide weder lebende Theaterdirektoren noch angesehene Tageskritiker sind, haben sie nicht das geringste Interesse für ihn. Wie vorzüglich ist Ihre Charakteristik von Wilibald Alexis. Ziegler kommt vielleicht ein bißchen zu gut weg; in erster Reihe war er doch ein kolossaler Schlauberger (auch echt märkisch). Nur 2erlei möchte ich doch noch sagen dürfen; der märkische Adel, den ich weiß Gott nicht überschätze, aber er ist in seinem Tun und seiner Lebenstüchtigkeit doch hoch interessant; auch der sogenannte „gemeine Mann" ist hoch interessant und voll Mut, Charakter und Freisinn (Tyrann für andre), das Bürgervolk erbärmlich und die Bourgeois 3mal erbärmlich. Und zum Schlüsse noch eins; Berlin ist eine miserabel langweilige Stadt, und wenn man eben von Kis- singen kommt und unter den Tausenden, die sich dort tummelten, auch die kolossal unbedeutenden Berliner Trivialgestalten gesehen hat, so ist man wahrhaftig nicht in der Laune, Ihnen zu widersprechen. Aber eine in Ihrem Aufsatz vorkommende Stelle, die darauf hinausläuft, daß, nach einer zurechtgemachten Annahme, „die Hohenzollern das alles und noch viel andres gemacht hätten", dies ist doch richtig, und Berlin (auch örtlich), im Hinblick auf die Hohenzollern und im Zusammenhang mit ihnen angesehen, ist eine historisch interessante Stadt. Mit anderen Worten, das Städtische der Stadt ist eigentlich öd und langweilig, nur erst die neueste Zeit hat hier gebessert, aber alles, was die Hohenzollern geschaffen und mit ihrem Tun und ihrem Geiste durchdrungen haben, ist hoch interessant: das Berliner Schloß, alt und neu, das Potsdamer Sanssouci, das Marmorpalais, das Neue Palais, das Charlottenburger Schloß — welche Welt! welche Gestalten, welche Erinnerungen. Es hat nur alles noch nicht seinen Geschichtsschreiber gefunden. Ich könnte es, aber ich werde 70, und nun ist Spiel und Tanz vorbei. Nochmals herzlichen Dank. Ihr aufrichtig ergebenster
Th. Fontane
Quelle: Fontanes Briefe in zwei Bänden. Ausgewählt und erläutert von Gotthard Erler. 2., verbesserte Auflage Berlin und Weimar 1980. Zweiter Band, S. 227 ff.
Anmerkungen
1 Wie die Demokraten die Mitarbeiter der preußischen Centralstelle für Preßangelegenheiten sahen, verrät die Darstellung von Weiß' Leipziger Parteifreund Heinrich Wuttke (1818—1876), der sie .eine Schar Hungerleider* nennt, .unbedeutende, unselbständige Schriftsteller, deren Feder käuflich war* um .15 bis 30 Taler monatlicher Löhnung" (Die deutschen Zeitschriften, 3. Auflage. Leipzig 1875, S. 138).
2 Dieses Bekenntnis wie das anschließende zu seiner demokratischen Entwicklungstendenz in: Von Zwanzig bis Dreißig. — In: Fontane: Autobiographische Schriften Hrsg. v. Gotthard Erler, Peter Goldammer und Joachim Krueger. Berlin und Weimar 1982 (im folgenden Autobiographische Schriften). Bd 2, S. 282.
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