Auch der Ausdruck literarisches Leben war Fontane nicht fremd. Das zentrale Kapitel seiner Memoiren, das vom „Tunnel über der Spree" handelt, ist mit der Erklärung versehen: „Aus dem Berliner literarischen Leben der vierziger und fünfziger Jahre." 1 Im gleichen Sinn hatte er vom „literarische(n) Berlin von 1840 bis 1860" 2 gesprochen, als er sich mit seiner Scherenberg-Biographie zum erstenmal diesem Zeitraum zuwandte, der identisch war mit dem ersten großen, vielbewegten Abschnitt seiner eigenen schriftstellerischen Laufbahn. Als er darüber schrieb, waren das schon ausgesprochen gestrige Zustände. In seiner Biographie des Tunnelgefährten Christian Friedrich Scherenberg aus dem Jahr 1884, wo er ein exzentrisches Poetenschicksal zu erklären hat, treten seine Vorstellungen vom literarischen Leben jedoch verhältnismäßig zusammenhängend und naturgemäß stärker in Erscheinung als in der autobiographischen Darstellung, wo dem „Tunnel" der gleiche Raum zugemessen, dieser aber mit einer ganzen Porträtgalerie gefüllt wird. Gerade in ihrer Zurückgewandtheit und Distanzierung durch das Schicksal des Anderen läßt diese Biographie, deren nähere Untersuchung ein Desiderat ist, außer Rückschlüssen auf Fontanes Verständnis des literarischen Lebens auch Rückschlüsse auf sein Selbstverständnis und seine Selbstdarstellung als dessen Teilnehmer zu, dem sich diese Überlegungen zuwenden werden. Gewiß zehren beide Berichte von der persönlichen Erinnerung und nehmen das Leben, literarisch oder nicht, noch wortwörtlich als die Daseinsweise von Einzelmenschen und den Prozeß ihres Verkehrs, der, gebunden an Zeit und Ort, seine Formen hervorbringt. Überwiegend sind dies Formen des persönlichen, oft gesellschaftlichen Umgangs, für den Literatur teils den Zweck, teils bloß den Anlaß bedeutet. Doch die Scherenberg-Biographie erzählt die Geschichte eines späten Erfolges und einer Vergessenheit, die schon bei Lebzeiten ihres Helden einsetzte; Fontanes Buch „hat ihn auch nicht retten können" 3 . Im Unterschied zum „Tunnel"-Kapitel der Memoiren schreibt es hauptsächlich Wirkuntjsgeschichte.
Infolgedessen belebt sich die Szene um den „armen (...) Poeten" 4 , der als Kopist ein kümmerliches Dasein fristet, mit Künstlerkollegen, Kritikern und Verlegern, mit hohen und allerhöchsten Persönlichkeiten. Scherenberg wird in den „Tunnel" eingeführt, wo er ein für allemal reüssiert — Grund und Gelegenheit für Fontane, dem es ähnlich ergangen war, sich des näheren mit der Entwicklung und Zusammensetzung dieser Vereinigung von Dichtern und Dilettanten zu befassen, die einst auch ein Stück seines Lebensinhalts ausmachte. Unter ihnen findet Scherenberg vornehme Gönner, die ihren Schützling durch eine Presse- oder Übersetzertätigkeit sicherzustellen versuchen. Freilich vergebens. Aber sie verhelfen ihm zu seiner ersten Gedicht-Ausgabe, an der Fontane nicht ihr Inhalt beschäftigt, sondern die buchhändlerischen Konditionen, die anachronistische Werbung und der geringfügige Absatz. Ihn interessiert außer der fesselnden produktiven Persönlichkeit an Scherenberg vornehmlich, wie er es zu einer gesicherten Existenz bringt, und wie sich um ihn eine Öffentlichkeit herstellt, auch wenn sie zunächst, nicht anders als der Absatz der Gedichte, eine „Vereins- und Koteriesache" 5 bleibt.
Zu beidem, der Existenzsicherung, die als Problem immer gegenwärtig ist, und der Herstellung einer Öffentlichkeit tragen sowohl die gesellige als auch die kommerzielle Sphäre bei, in denen er Fuß faßt. Es sind getrennte Sphären, zwichen denen gleichwohl zahlreiche Verbindungen spielen, von denen er
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