Heft 
(1987) 44
Seite
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Während L. Schneider bei Hofe las und der etwas bornierte, nach wie vor mit .Waterloo' durch die Welt ziehende Schramm seine .Cremoneser Geige' (d. i. sein volltönendes Organ, P. W.) zu Ehren seines Dichterheros erklingen ließ, saß eben dieser Dichterheros in dem für Personen der Art immer nur Spott habenden .Cercle intime' des gesellschaftsstürzenden Sozialdemokraten und wehrte kaum lächelnd ab, wenn über die .beiden Dümmlinge', wie man Schramm und Schneider zu nennen pflegte, gewitzelt wurde.

Natürlich ist gegen ein solches .Auf zwei Schultern Tragen' allerlei zu sagen und auch tatsächlich gesagt worden. Aber diese Halbheit und Zweideutigkeit, die sich durch Scherenbergs ganzes Leben zieht, konnte nach Lage der Sache nicht wohl ausbleiben. Sie war nicht seine Wahl, sondern das Resultat der Verhältnisse. Völlig unbefangen und jedenfalls keiner Partei zuliebe und zu­leide seine Dichtungen schaffend, sah er, wie sich konservative Kreise der­selben bemächtigten. Hätt er dagegen protestieren sollen? Es wäre närrisch gewesen. Vor allem auch unklug. Und so ließ er es denn geschehen. Aber das freie Herz blieb, und in der obersten Sphäre der Gesellschaft ist ihm, soviel ich weiß, diese Doppelstellung auch nie zum Schlimmen hin angerechnet worden ." 14

In Fontanes ganzem Buch findet sich kein Punkt, wo der Autor so unum­wunden und mitbeteiligt für seinen Helden eintritt wie bei diesem prekären Fazit. Der Anklang an spätere Selbstbekenntnisse Fontanes ist kaum zu über­hören, und man fühlt sich sehr zu Recht an die Kennzeichnung erinnert, die Georg Lukäcs in seinem Essay, dessen Fragestellungen noch lange nicht erle­digt sind, für ihn gefunden hat: einMensch und Schriftsteller, der für keine der kämpfenden Klassen oder Parteien wirklich zuverlässig ist" 15 .

II

Zieht man eine Zwischenbilanz, so ergibt sich folgendes: Der Streitfall Scherenberg und seine Wiederaufnahme durch Fontane verdienen, daß man sie in Zukunft auf ihren Platz in der Geschichte der Debatten rückt, die seit dem Vormärz um die politische Parteinahme der Literatur geführt worden sind. Für Fontanes Verständnis des literarischen Lebens resultiert aus dem Scheren­berg-Buch wenn man das ohne die erforderlichen Grenzwertbestimmungen sagen kann, daß sich ihm das Kräftespiel in diesem speziellen Tätigkeits­bereich, dessen Komponenten er großenteils identifiziert hat, durchweg in per­sonalisierter Form darstellt und daß inmitten dieses Kräftespiels der Autor mit seinem Werk die zentrale, aber nicht die dominierende Stelle einnehmen. Wieviel von dieser Auffassung den unentwickelten Verhältnissen zuzuschreiben ist, die er behandelt und aus denen er kommt, wieviel dem Blickwinkel des Biographen, der auch ein Autor mit seiner besonderen schriftstellerischen Mentalität ist, wird sich so leicht nicht unterscheiden lassen; es kann für diesmal auf sich beruhen. Nicht so der Umstand, daß er weit davon entfernt ist, die subjektive Autonomie, die er dem Dichter zuerkennt, ja sogar ab­verlangt, mit tatsächlicher Unabhängigkeit zu verwechseln oder als praktische Verhaltensnorm zu proklamieren. Sein Denken kreist ganz im Gegenteil um die Chancen, den Abhängigkeitsverhältnissen, in die der Autor hineinwächst, die erforderlichen Existenz-, Produktions- und Wirkungsbedingungen abzu-

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