So konnten sich unter dem Dach des Vaterländischen, wie schon dem Beispiel des „Preußischen Ehrenspiegels" zu entnehmen ist, poetische Zeugnisse zusammenfinden, die sich nach Herkunft und Charakter stark voneinander unterscheiden. Bereits Ernst Köhler hat beiläufig darauf hingewiesen, daß Fontane mit seinen Preußenliedern in einer gewissen Tradition stand, zu der er „Alexis, Kopisch mit seinen preußisch-vaterländischen Versanekdoten, Julius Minding mit seinen .Liedern vom Alten Fritz' und de(n) damals noch außerhalb des Tunnels stehende(n) Hesekiel mit seiner ersten .Preußenliedern'" 23 rechnet. Aber Köhler war es auch, der die maßgeblich gewordene Abhebung der Fon- taneschen Gedichte von der „konservativ-royalistischen Basis" vornahm, auf der die anderen fußten, während Fontanes Anrufung des alten Preußen die Kritik am modernen Preußen einschloß.
Im Nachmärz hatte die vaterländische Poesie preußischer Observanz namentlich im Tunnel Hochkonjunktur. „Die preußisch-patriotische Tendenz sprach sich auf mannigfaltige Art aus, in Gedichten an den König und an Mitglieder des Königshauses, in Epen und Dramen, Prosaskizzen und Novellen, hauptsächlich aber in zahlreichen mehr oder minder balladesken Soldatengedichten und -liedern. Gerade hier, wo das parteimäßig Politische von selbst vollkommen zurücktrat, war durch Scherenberg und Fontane bereits in den vierziger Jahren eine Tradition geschaffen worden, die nunmehr von den Militärs und Nichtmilitärs des Tunnels aufgenommen und eifrig weitergepflegt wurde." 20 An dieser Konjunktur nahm ihr Mitbegründer Fontane jedoch nicht mehr teil. Er hatte sich 1850 noch angeschickt, eine geplante Sammlung seiner Gedichte dem Verleger durch Hinzufügung einer „Rubrik unter dem Titel .Vaterländisches'" 263 schmackhafter zu machen. 1855 schrieb er ihren Trägern ins Stammbuch: „(...) die Zeit ist eine andre geworden, wir schreiben nicht mehr 18 4 8 und wollen uns erholen von der Überschwemmung patriotischmilitärischer Poesie." Man dürfe mit Recht behaupten, daß die patriotische Poesie, und mit ihr Scherenberg, durch die konkurrierenden Rittmeister a. D. um die Hälfte ihres Kredits gekommen sei. 27 Zur selben Zeit nannte er Freytags „Soll und Haben" die „erste Blüte des modernen Realismus" 28 . Das sind Auffassungen, auf die er in der Scherenberg-Biographie-zurückgreifen sollte. Ein tiefgreifender Umschwung in seinem Zeitgeschichts- und Literaturverständnis hatte sich angebahnt, der sich in London vollendete. Der Pressekorrespondent und Reisefeuilletonist hatte berichtende Prosa im Auge, als er 1858 von dort dem väterlichen Freunde Wilhelm von Merckel seine wachsende Neigung bekannte, „vaterländisches Leben künstlerisch zu gestalten" und mit der Anmerkung versah: „Wohlverstanden, im allerkleinsten Stil." 29 In dem Maße, wie er dieser Neigung nachkam, wurde aus einem Verfasser patriotischer Gedichte der vaterländische Schriftsteller, der sein öffentliches Gepräge von der preußisch-patriotischen Richtung seines Schaffens empfing. Mit dem Beginn der sechziger Jahre, als er seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg angetreten und in der Kreuzzeitung die Redaktion des englischen Artikels übernommen hatte, erlangte sie bei ihm ein größeres Gewicht als bei Scherenberg, dem diese Kennzeichnung auf den Leib geschrieben schien, ob ihn nun der Tunnelfreund Heinrich von Orelli neben dem Schlachtenmaler Bleibtreu als Exponenten vaterländischen Künstlertums darstellte oder der Kronprinz Friedrich Wilhelm ihm eine Pension aussetzte. 30
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