„Vor dem Sturm" zu „Schach von Wuthenow”. Das sogenannte Vaterländische driftete infolgedessen in die Vergangenheit ab; aus einem Gegenwartsfaktor wurde es zu einer Kennzeichnung, die auf die retrospektive Verwendbarkeit eingeschränkt erscheint. Kein Wunder; Der vaterländische Schriftsteller Fontane gehörte zu den Opfern, die bei dem großen Positionswechsel auf der Strecke blieben, den er an der Wende der siebziger Jahre einleitete. Die Vielschichtigkeit dieses Wechsels, der anfänglich als ein politisch-weltanschaulicher erkannt und analysiert worden war, ist in jüngerer Zeit immer deutlicher herausgearbeitet worden. Von den Gattungsentscheidungen, die Fontane traf, erstreckte er sich bis zur Verwertungsweise, der er seine Texte unterwarf, Den Adressaten- und Käuferkreis berührte er ebenso wie das Selbstverständnis des Autors, der auch seine Verleger wechselte und sich zunehmend auf einen von der Massenproduktion für ein Massenpublikum beherrschten Markt einstellte.
Nicht im selben Maße wie bezüglich der Vielschichtigkeit ist es schon gelun-, gen, dabei auch dem Problem von Kontinuität und Diskontinuität gerecht zu werden, das ein Grundproblem jeder Biographie und im besonderen dasjenige der Fontane-Biographie ist. Es tritt in den Übergangsprozessen um das Jahr 1880, aus denen als ein moderner Autor der alte Fontane hervorging, vielleicht nicht in der größten persönlichen Schärfe auf. Aber es entwickelte hier seine größte literaturgeschichtliche Bedeutung. Fontane verfügte als Sechzigjähriger, das ist selbstverständlich, über einen Grundbestand relativ stabiler Einstellungen und Denkmotive. Sofern sie identifiziert und die Schicksale ermittelt werden, die sie infolge dieses Positionswechsels jeweils durchgemacht haben, sind weitergehende Aufschlüsse und Erklärungen für das Weltbild und die Verhaltensweisen des alten Fontane zu erwarten.
Ein zentrales Beispiel für viele ist das Trauma, das er aus dem Verlust jenes Publikums davontrug, mit dem er sich einmal einig wußte und auf das er meinte zählen zu dürfen. Als er 1882 mit dem Leipziger Verleger Wilhelm Friedrich über die endgültige Titelgebung seiner historischen Novelle verhandelte, für die es dann einfach bei „Schach von Wuthenow" blieb, versicherte er diesem, er habe ein kleines Publikum, das fest zu ihm halte und seit Jahren gewöhnt sei, „in der Woche vor Weihnachten 3 oder 4 Mark an seinen .vaterländischen Schriftsteller' zu setzen." 43 Den Anführungszeichen, in denen der vaterländische Schriftsteller hier auftritt, ist nicht zu entnehmen, wieweit sie den gebräuchlichen Ausdruck quasi zitieren oder ihn ironisieren sollen. Denn den Bannkreis anerkannter preußisch-patriotischer Gesinnung hat er mit seiner „Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes" gerade durchbrochen, während er dem Stoff und der Problematik nach noch ganz auf dem vaterländischen Territorium verharrt: Grund genug, sich mit ein und demselben Federzuge darauf zu berufen und davon abzurücken.
Ähnlich wie bei Scherenberg rechnete er für sich noch mit der relativen Kohärenz seines Publikums, nur daß es diesmal durch die Presseorgane konstitutiert wird, an denen er sich einen Namen gemacht hatte. Friedrich soll drei Exemplare des Buches an die Kreuzzeitung und drei an die Vossische Zeitung schicken. „Beide muß ich cajolieren, denn beide (wiewohl politisch ganz entgegengesetzt) umfassen mein allereigentlichstes Publikum, die Kreuzzeitungs-
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