Es ist klar zu sehen, daß jener überwölbende Zusammenhang von Politik und Poesie, von gesellschaftspolitischen und Literaturvorstellungen, von Geschichtsverlauf und schriftstellerischem Verhalten jetzt nicht nur differenzierter (auch nach Phasen) dargestellt werden kann — die Bewegung des Autors Theodor Fontane in diesem Zirkel gestattet es, sein Mittun auch als Andersmachen zu begreifen. Gerade weil sein Weg vom Vormärzlyriker zum Gesellschaftsschriftsteller über Jahrzehnte nicht ohne Bruch und nicht ohne konservative Orientierung verläuft, gewinnt die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität seiner Vorstellungen zentrale Bedeutung für sein Werk, für eine neue Biographie.
Schriftstellerisches Sozialverhalten ist an die grundlegenden Verschiebungen und Kämpfe der Klassen gebunden, aber es ist auf spezielle Wirkungen hin angelegtes Verhalten. P. Wrucks zentrale These, dafj das Verständnis des literarischen Lebens (durch Fontane, aber auch Kritiker ‘und Mitautoren) zwischen dem schriftstellerischen Verhalten und den Bedingungen, die es vor- findet, vermittelt, bietet uns in der Zusammenschau und mit den neu aufbereiteten Materialien eine veränderte Basis für die Biographie dieses Schriftstellers und die Bewegung dieses und anderer Autoren auf dem Felde der Literaturgeschichte. Worauf es am Ende ankommt: Wir können nun schärfer das Singuläre aus dem Allgemeinen herausheben, das, womit der alte und immer wieder junge Fontane weit über seine Zeit hinausragt.
Wie Raabe bewahrt er seinen Entwurf von der Integrität des Individuums gerade da, wo er dieses bedroht und durch Zwänge der Gesellschaft zerstört sieht. Die Leuchtkraft seiner Figuren und seiner Sprache ist an Berlin und dessen Entwicklung gebunden, damit Welterfahrung aufnehmend und in seine Geschichten hineinnehmend, die Storms Werken in diesem Punkt versagt bleiben mußte, ohne dafj wir darum dessen (und Raabes) Dichtung weniger Genuß abzugewinnen wüßten. Der Realismus der Großstadt scheint härter und an weiterweisende urbane Lebenserfahrung gebunden; aber das sagt eigentlich erst etwas in seinem Wert für uns, wenn wir die unglückselige Antinomie von Dichter und Schriftsteller aufheben, die ihren Ursprung in den Marktverhältnissen der Fontane-Zeit hat (signifikant spätestens um 1900) und hinter der sich im Grunde veränderte Funktioneh von Kunst und Literatur verbergen — bei Fontane, bei Thomas Mann — zum Teil nachwirkend bis heute. P. Goldammer und H. Denkler haben uns auf diese tradierten Zugänge verwiesen. Wie eng die Autorenkonzepte des bürgerlichen Liberalismus mit Einzelfragen wie der Suche nach einem subjektiven Prosastil und anderen Problemen der Gatfcungswahl und Erzählkunst Zusammenhängen (Traditionsbeziehung und Publikumsvorstellungen einschließend) — das haben P. Wruck, H. Denkler, W. Wülfing, M. Masanetz, Chr. Grawe und R. Berbig demonstriert. Und konzi- diert man, daß Fontane in allen Phasen seinen Blick für die soziale Realität geschärft hat (wie es H. Richter und M. Ossowski hervorheben), so erklären sich Fontanes konservative Phase und sein „konservativer Habitus" (K. R. Scherpe) nicht allein direkt politisch aus den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen (nach 1848/49, vor und nach 1870/71), sondern beide erscheinen im weiten Spektrum des Umbaues und des Umbruches jener Autorenrollen, die bei Fontane so klassisch zu beobachten sind. Die Desillusionierungsprozesse Mitte der 70er Jahre berühren alle Bereiche; sie haben die Geschichte
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