Peter Goldammer (Weimar)
Auch auf den Text kommt es an.
Zur Diskussion um eine kritische Fontane-Ausgabe
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Als der Leipziger Literaturhistoriker Albert Köster im Oktober 1918 in der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften „Prolegomena zu einer Ausgabe der Werke Theodor Storms" vortrug, glaubte er sich gleichsam dafür entschuldigen zu müssen, daß er «ein so seltsames Thema ... behandle" 1 . In seiner Ausgabe — sie kam in den beiden folgenden Jahren, achtbändig, im Insel- Verlag heraus — wolle er „mit möglichster Vollständigkeit" das Material vorlegen, „das der Forscher braucht oder der, der aus Liebe zu Storms Lebenswerk der Entwicklung des Künstlers nachgehen will. Zu jedem Gedicht wird die vollständige Textgeschichte, zum erheblichen Teil aus Handschriften, vorgeführt. Hier hat die Mitteilung aller Lesarten nicht allzuviel Raum erfordert . .. Dagegen wäre bei den Prosawerken ein ganzer sogenannter .Apparat' ein Unding gewesen. Was Goethe in der Weimarer Ausgabe recht war, ist Storm darum noch nicht billig; die Karikatur einer Storm-Philologie soll nicht aufkommen." 2 Gewiß hat Köster jene maliziöse Bemerkung nicht gekannt, die Wilhelm Raabe einmal mit Bezug auf Storm gemacht hat — man verhandle nicht über „Pole Poppenspäler" wie über „Faust" und „Hamlet" 3 —, die Vorstellung jedoch, daß Theodor Storm (ebenso wie die übrigen zeitgenössischen deutschen Erzähler, deren künstlerischer Rang heute unbestritten ist) eher zu den poetae minores zu zählen sei, scheint für ihn ebenfalls zu den unbezwei- felten und unumstößlichen Voraussetzungen literaturgeschichtlicher Klassifizierung und ästhetischer Wertung gehört zu haben.
Auch Fontanes Einteilung deutscher Schriftsteller in „große" und „kleine" wirkt aus heutiger Sicht beinahe befremdlich. In einem Brief an Storm stellte er einmal die These auf, „ daß die sogenannten großen Poeten die Bedürfnisse gewisser Naturen durchaus nicht decken". Und indem er sich als Verehrer der Stormschen Lyrik zu erkennen gibt, ja Storm als seinen „Lieblingsdichter" bezeichnet, ordnet er ihn doch den ihm als zweitrangig geltenden Poeten zu; „Bürger ist kein Schiller, Heine ist kein Goethe, Storm ist kein Wieland. . ." 4 Daß der Adressat des Briefes über ein solches Kompliment nicht eben entzückt war, läßt sich aus dem Antwortbrief ablesen. 5 Fontane aber scheint das Dubiose seiner Verehrungsbekundung überhaupt nicht empfunden zu haben, denn er selbst wäre schwerlich auf den Gedanken gekommen, sich — und sei es auch nur insgeheim — den „Großen" zuzurechnen. Daß sich, nahezu ein Jahrhundert nach seinem Tode, Scharen von Literaturwissenschaftlern und Editoren mit der Erforschung und Erschließung seines schriftstellerischen CEuvres beschäftigen würden, hat er wohl nicht vorausgesehen; denn es gibt kaum einen Autor deutscher Spriche, der weniger ambitiös, weniger ruhmbegierig gewesen wäre als Theodor Fontane.
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