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Daß in jüngster Zeit Überlegungen angestellt und konkrete Vorschläge unterbreitet werden, wie Fontanes erzählerisches Werk wenn nicht historisch-kritisch (oder historisch-genetisch), so doch wenigstens „kritisch" aufbereitet werden müßte, ist freilich nicht allein der seit den fünfziger Jahren unvermindert anhaltenden „Fontane-Renaissance" geschuldet. Nachdem die germanistische Editionsphilologie ihr Interesse vorrangig auf die Dokumentation der Textgenese gerichtet hat — nicht selten unter Vernachlässigung all der mit der Textkonstituierung zusammenhängenden Probleme —, mußten ihr, früher oder später, Fontane-Texte als vorzügliche Demonstrationsobjekte textologischer Untersuchungen auffallen. Ein Autor, für den „Dreiviertel" seiner „ganzen literarischen Tätigkeit .. . corrigiren und feilen"' 1 war und dessen „work in process" 7 durch zahlreiche Zeugen, wenn auch nur lückenhaft, überliefert ist, kann in der Tat als Kronzeuge aufgerufen werden für die Berechtigung der — wenn auch nicht unbestritten gebliebenen 8 — Forderung der Mehrzahl aller neueren Editionswissenschaftler nach vollständiger Verzeichnung aller bekannt gewordenen Varianten im Apparat einer kritischen Ausgabe.
Domenico Mugnolo, dem das Verdienst zukommt, als erster ein praktikables Editionsmodell für Fontanesche Romane entwickelt zu haben 9 , erwartet von einer solchen Edition „kaum Berichtigungen zum Text" 10 ; ihm geht es vielmehr darum, „die Stufen zu dokumentieren, durch die der Text zu seiner endgültigen Gestalt gelangt" 11 ist. Darüber hinaus läßt die Einleitung zu Mugnolos „Vorarbeiten" deutlich erkennen, daß die editorischen Interessen des Verfassers, nicht ausschließlich zwar, wohl aber vorrangig, eng mit denen des Werkinterpreten Zusammenhängen. Erhellung der Textgenese ermöglicht exaktere, weil objektivierte, nachprüfbare Interpretationsmethoden als die Untersuchung und Betrachtung einer einzigen Fassung oder Textstufe des interpretierten Werkes, ermöglicht, in unserem Fall, Aufschlüsse über die Spezifik des Fontaneschen Realismus. So interessant und wichtig die dadurch gewonnenen bzw. zu gewinnenden Erkenntnisse sind: die Editorik erschöpft sich in dieser Funktion nicht. Der Herausgeber einer kritischen Ausgabe hat vielmehr darauf bedacht zu sein, daß an das Resultat seiner Arbeit viele — und auch recht unterschiedliche — Anforderungen gestellt werden, vom literarisch wie wissenschaftlich gleichermaßen interessierten Laien bis zum Literaturwissenschaftler, Historiker und Linguisten, mit allen nur denkbaren Fragen, Erwartungen und Ansprüchen.
Mugnolo geht davon aus, daß „eine historisch-kritische Ausgabe der Romane und Erzählungen Fontanes .. . heute wohl nicht auf der Tagesordnung" 12 steht. Auf Grund der unterschiedlichen Überlieferungslage, und weil es oft nicht möglich ist, die Chronologie der innerhandschriftlichen Varianten, d. h. die exakte Reihenfolge der Korrekturvorgänge, zu rekonstruieren, plädiert Mugnolo für die Anwendung einer „flexiblen Methode" der Apparatgestaltung. 13 Und mit Bezug auf die erstmals 1969 im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar erschienene Lese- und Studienausgabe der Romane und Erzählungen 11 hält auch er es für richtig, die Wahl des zu edierenden Textes — Zeitschriftenvorabdruck oder erste Buchausgabe — von Fall zu Fall zu treffen 15 . In seinen Anmerkungen zu Mugnolos „Vorarbeiten" 16 stellt daher Walter Hettche die Frage, „ob es nicht der Überlieferungssituation angemessener wäre, eine Edi-
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