So hat man, zum Beispiel, bei der Vorbereitung der- Hawthorne Centenary Edition in dem Rqman „The House of the Seven Gables" beim Vergleich der Erstausgabe mit der Handschrift zehn bis fünfzehn Abweichungen pro Seite festgestellt, von denen viele Interpunktion, Großschreibung, Orthographie und Getrenntschreibung betreffen . 50 Der Berichterstatter über diesen Tatbestand, der Hawthorne-Herausgeber Fredson Bowers, hat an anderer Stelle bemerkt, daß „allgemeine schrift- und buchkundliche Erfahrung (bibliographical ex- perience), die sich auf einen lückenlosen Textvergleich gründet, den Glauben zu fördern scheint, daß gewöhnlich . .. der Autor sich auf die Revision des Wesentlichen (substantive revision) konzentrierte und im allgemeinen die Akzidenzien, mit denen der normale Herstellungsprozeß sein Werk überfremdet hat, einfach hinnahm, soweit diese nicht wirklich fehlerhaft oder irreführend waren" 51 .
In der anglistischen, genauer: der englisch-amerikanischen Editionsphilologie spielt die Textkonstituierung, die Gewinnung und Darbietung des „copy-text" bis heute eine weit größere Rolle als in der germanistischen Editorik oder Textologie. So bezeichnet Bowers es als die Zielstellung der Textkritik, „die ursprüngliche Reinheit des Textes eines Autors wiederzugewinnen, ihn zu revidieren (soweit das anhand der überlieferten Dokumente möglich ist) und diese Reinheit trotz der üblichen Verderbnis im Verlauf seiner Übertragung beim Neudruck zu bewahren ". 52 Zwar konnte man auch in einem vor knapp dreißig Jahren erschienenen deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Standardwerk noch lesen, Aufgabe des Herausgebers sei es, „einen gesicherten Text herzustellen", und sie könne „dann als gelöst gelten, wenn eine dem Willen des Verfassers entsprechende oder eine diesem möglichst nahe kommende Wiedergabe des von ihm konzipierten Werkes erreicht ist ". 53 Seither aber sind Begriffe wie gesicherter Text und Autorwille in Verruf geraten, und in den Mittelpunkt der Editionstheorie wie der praktischen Editionstätigkeit ist mehr und mehr der Apparat gerückt. Nur in Ausnahmefällen wird es in der germanistischen Edition noch als wichtig und sinnvoll empfunden, „den authentischen Text und die authentische Schreibweise des Autors zu ermitteln und wiederherzustellen" 54 . Im Prinzip gilt heute in einer historisch-kritischen Ausgabe der edierte Text nur mehr als „Lesehilfe zum integralen Apparat", der seinerseits zum „Kern einer Edition" anvanciert . 55 Die Folge ist, daß als Text jetzt weniger das Werk in seiner je konkreten Gestalt verstanden wird, sondern die „Summe der jeweils vorhandenen ... Textfassungen, die zu dem Werk überliefert sind" 56 . Da aber nun, nach derselben Lehrmeinung, alle Textfassungen eines Werkes „untereinander prinzipiell gleichberechtigt " 57 sind, wird in der Tat die Frage, welche dieser Fassungen zu „edieren", d. h. vollständig abzudrucken sei, zumindest sekundär, wenn nicht ganz und gar irrelevant. Der Text — und mit ihm das Werk — löst sich in seine Genese auf.
Den Herausgeber einer Studienausgabe oder auch einer anspruchsvollen sogenannten Leseausgabe, von dem der Benutzer in erster Linie einen zuverlässigen, zitierbaren Text erwartet, läßt eine so intendierte Editorik oder Textologie im Stich - es sei denn, er folge dem Rat mancher Editionswissenschaftler, nach Autorintention, selbst nach Autorisation nicht mehr zu fragen, sondern sich ganz der gedruckten als der gesellschaftlich wirksam gewordenen Überlieferung anzuvertrauen und nur solche „fehlerhafte Stellen" zu beseitigen.
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