Heft 
(1987) 44
Seite
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immer und ewig wie Co-Autoren behandelt werden? Gibt es wirklich kein editorisches Verfahren, mit dessen Hilfedie durch historische Faktizität ver­hinderte Form des Textes " 03 wenigstens bis zu einem gewissen Grade nicht rekonstruiert", sondern aus dem überlieferten Zeugenmaterial zurückgewon­nen werden kann? Zwar betreffen solcheVerformungen" meist nur die Ober­fläche eines Textes; gleichwohl verändern sie man denke nur an die Beseitigung von Synkopen und Apokopen dessen Struktur.

In der Tat hat vor mehr als fünfunddreißig Jahren schon Walter Wilson Greg mit seinem bedeutenden AufsatzThe Rationale of Copy-Text " 64 die theoretische Grundlage für ein solches Verfahren geschaffen, das längst, mehrfach modifiziert und weiterentwickelt, seine Bewährungsprobe in der editorischen Praxis bestanden und zugleich der anglistischen Editionstheorie wesentliche Impulse gegeben hat. Die germanistische Editorik hat Gregs Theorie entweder gar nicht, allenfalls oberflächlich zur Kenntnis genommen oder ist ihr mit einer Art kritischem Argwohn begegnet. Es ist nicht eben hilfreich weder für theoretische Reflexionen noch für die praktische Editions­arbeit, noch gar für eine dringend erforderliche interdisziplinäre und inter­nationale Diskussion und Kooperation auf dem Felde der Editionswissen­schaft, wenn, zum Beispiel, ohne den geringsten Ansatz einer wissenschaft­lichen Beweisführung schlankweg behauptet wird, was manin der anglisti­schen Textologie als ,Copy-Text' bezeichnet", habeviele Ähnlichkeit mit der Kanonisierung einer .Ausgabe letzter Hand'" 05 .

Das nicht selten auch von germanistischen Editoren zum Ausdruck gebrachte Unbehagen, unter dem Begriff Variante per definitionem sowohl einschnei­dende, den Sinngehalt, die Struktur und/oder den Sprachstil tangierende Unterschiede zwischen zwei Textfassungen wie auch bloße Differenzen ortho­graphischer Art zu subsumieren 66 , hat Walter W. Greg veranlaßt, einen prin­zipiellen Unterschied zu machen zwischensubstantive" odersignificant" readings (Lesarten) undaccidentals ". 67 Die erste Art betrifftdie Bedeutung dessen, was der Autor gemeint hat, sowie das Wesen seiner Ausdrucksweise" (the author's meaning or the essence of his expression") die andere fällt, im weitesten Sinne, in den Bereich der Rechtschreibung (spelling, punctuation, word-division, and the like") und berührt hauptsächlich die formale Darbietung eines Textes. Ähnlich definiert Fredson Bowers diesubstantives" alsthe words as meaningful units" und dieaccidentals" alsthe form that the words take in respect to spelling, punctuation, capitalization, and division ". 68 Die Erfahrung zeige, so führt Greg weiter aus, daß Schreiber und Setzer unter­schiedlich auf diese beiden Variantenarten reagieren; Was diesubstantive readings" angehe, so könne davon ausgegangen werden, daß es ihre Absicht sei, sie genau nach der Vorlage zu reproduzieren wenngleich sie auch, zu­fällig oder aus dem einen oder andern Grunde auch absichtlich, mitunter davon abweichen, während bei denaccidentals" die Schreiber und Setzer ihren eigenen Gewohnheiten oder ihrer Neigung folgen, obschon sie, ebenfalls aus verschiedenen Gründen und in unterschiedlichen Graden, von der Vorlage beeinflußt werden können. Wenn wir einmal davon absehen, daß es sich bei den beiden oben vorgestelltenSchach-von-Wuthenow"-Fassungen nicht um Handschriften, sondern um Drucke handelt und daß beim Zustandekommen der zweiten Fassung der Autor selbst mitgewirkt undsubstantive variants'

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