immer und ewig wie Co-Autoren behandelt werden? Gibt es wirklich kein editorisches Verfahren, mit dessen Hilfe „die durch historische Faktizität verhinderte Form des Textes " 03 wenigstens bis zu einem gewissen Grade nicht „rekonstruiert", sondern aus dem überlieferten Zeugenmaterial zurückgewonnen werden kann? Zwar betreffen solche „Verformungen" meist nur die Oberfläche eines Textes; gleichwohl verändern sie — man denke nur an die Beseitigung von Synkopen und Apokopen — dessen Struktur.
In der Tat hat vor mehr als fünfunddreißig Jahren schon Walter Wilson Greg mit seinem bedeutenden Aufsatz „The Rationale of Copy-Text " 64 die theoretische Grundlage für ein solches Verfahren geschaffen, das längst, mehrfach modifiziert und weiterentwickelt, seine Bewährungsprobe in der editorischen Praxis bestanden und zugleich der anglistischen Editionstheorie wesentliche Impulse gegeben hat. Die germanistische Editorik hat Gregs Theorie entweder gar nicht, allenfalls oberflächlich zur Kenntnis genommen oder ist ihr mit einer Art kritischem Argwohn begegnet. Es ist nicht eben hilfreich — weder für theoretische Reflexionen noch für die praktische Editionsarbeit, noch gar für eine dringend erforderliche interdisziplinäre und internationale Diskussion und Kooperation auf dem Felde der Editionswissenschaft —, wenn, zum Beispiel, ohne den geringsten Ansatz einer wissenschaftlichen Beweisführung schlankweg behauptet wird, was man „in der anglistischen Textologie als ,Copy-Text' bezeichnet", habe „viele Ähnlichkeit mit der Kanonisierung einer .Ausgabe letzter Hand'" 05 .
Das nicht selten auch von germanistischen Editoren zum Ausdruck gebrachte Unbehagen, unter dem Begriff Variante per definitionem sowohl einschneidende, den Sinngehalt, die Struktur und/oder den Sprachstil tangierende Unterschiede zwischen zwei Textfassungen wie auch bloße Differenzen orthographischer Art zu subsumieren 66 , hat Walter W. Greg veranlaßt, einen prinzipiellen Unterschied zu machen zwischen „substantive" oder „significant" readings (Lesarten) und „accidentals ". 67 Die erste Art betrifft „die Bedeutung dessen, was der Autor gemeint hat, sowie das Wesen seiner Ausdrucksweise" („the author's meaning or the essence of his expression") ■ die andere fällt, im weitesten Sinne, in den Bereich der Rechtschreibung („spelling, punctuation, word-division, and the like") und berührt hauptsächlich die formale Darbietung eines Textes. Ähnlich definiert Fredson Bowers die „substantives" als „the words as meaningful units" und die „accidentals" als „the form that the words take in respect to spelling, punctuation, capitalization, and division ". 68 Die Erfahrung zeige, so führt Greg weiter aus, daß Schreiber und Setzer unterschiedlich auf diese beiden Variantenarten reagieren; Was die „substantive readings" angehe, so könne davon ausgegangen werden, daß es ihre Absicht sei, sie genau nach der Vorlage zu reproduzieren — wenngleich sie auch, zufällig oder aus dem einen oder andern Grunde auch absichtlich, mitunter davon abweichen —, während bei den „accidentals" die Schreiber und Setzer ihren eigenen Gewohnheiten oder ihrer Neigung folgen, obschon sie, ebenfalls aus verschiedenen Gründen und in unterschiedlichen Graden, von der Vorlage beeinflußt werden können. Wenn wir einmal davon absehen, daß es sich bei den beiden oben vorgestellten „Schach-von-Wuthenow"-Fassungen nicht um Handschriften, sondern um Drucke handelt und daß beim Zustandekommen der zweiten Fassung der Autor selbst mitgewirkt und „substantive variants'
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